Verschluckt, von der zähen Masse verschlungen…
Es war so unwirklich. Atemblasen, die aus dem Schlamm aufstiegen, ein leises Gurgeln, ein vereinzelter Seufzer, als eine riesige Schwanzflosse ein letztesmal aus der graugrünen Masse ragte, die sich im Schatten des Schiffes rasch verdunkelte.
Ein letzter saugender Seufzer – das Schwingen einer mächtigen glänzenden Schwanzflosse, die sich wie ein schwarzes Y vom Himmel abhob, ein Blubbern, als würde ein halbes Tausend ertrinkender Menschen nach Atem ringen. Und der Zoologe Heinrich Sturm starrte durch seine dicke schwarze Sonnenbrille auf einen graugrünen Schlammtropfen, der an seinem Finger hing, auf die Schlammspritzer an Deck zu seinen Füßen und gab zufrieden einen deutschen Fluch von sich.
Ein Toter lag da. Und ich war dabei:
Freitag, 22. August.
Nicholas Svadins Zustand ist schon seit drei Tagen sehr ernst, und die ganze Welt blickt auf ihn.
Nicholas Svadin, Diktator von Mitteleuropa, liegt wachsbleich unter aufgehäuften Kalla-Blüten, unter der Augustsonne von Budapest. Nicholas Svadin, der Sohn des slawischen Metzgers und Enkel des deutschen Führers, liegt da, mit sechs Kugeln im Schädel und in der Brust. Nicholas Svadin, dessen Herrschergenie die Loyalität und nicht den Haß der Nationen gewonnen, dessen Gier sich vom Konflikt zwischen Sprachen und Rassen genährt, dessen Schatten über Europa gelegen hat, von der Wolga bis zum Rhein. Nicholas Svadin, der ganz Europa tyrannisiert hat, außer den zänkischen Mittelmeerländern und der angloskandinavischen Konföderation, die sich kühl und abwartend verhielt.
Nicholas Svadin, gestorben unter der Augustsonne, und ganz Europa erzittert unter den Schwingen des Chaos, die sich rasch entfalten.
Und vier Männer regierten die Welt. Und vier Männer fürchteten sich.
Sie standen da, so wie sie dagestanden hatten, als Svadins dröhnende Stimme in einem blutigen Husten erstickte, als sein großer Körper, mit ausgebreiteten Armen, ein verzweifeltes Sinnbild des Kreuzes, wie ein ranziger Fetzen auf den weißen Stufen der Friedenshalle zusammenbrach. Sie standen da, und die Welt lag vor ihnen wie der tote Meister, und vor ihren Augen dämmerten Zukunftsvisionen.
Vier Männer waren auf der Welt – der bärtige blonde Rasmussen, der Premierminister von Anglo-Skandinavien mit den Stahlaugen, neben ihm Nasuki, klein und schlau, mit der althergebrachten Verschlagenheit des Ostens, der aalglatte Gonzales, der olivenhäutige Erbe des neolateinischen Diktators, der Amerikaner Moorehead, schlank und weißhaarig, der älteste der vier.
Vier Männer unter der Augustsonne, im betäubenden Duft der Totenlilien, und ich mit meiner Kamera… Wir fünf markierten den langsamen Fortgang der Zeit.
Ich fotografierte die vier, wie sie neben der Bahre standen, ich fotografierte die Prozession der Trauernden, die in schwarzen Rudeln durch die stillen Straßen von Budapest strömten. Ich fotografierte die Priester, die herankamen, mit dem feierlichen Ernst der älteren Generation.
Und ich fotografierte die Wiederauferstehung des Toten.
Nicholas Svadin erhob sich von seiner Bahre und starrte die Männer an.
Nicholas Svadin erhob sich und sein wachsbleiches Gesicht mit dem massigen Kinn und der bläulichen Einschußnarbe zwischen den Augen. Nicholas Svadin schwang die dicken steifen Beine über den Rand der Bahre, und dann stand er allein da, lebendig, starrte die Menschheit an und sprach vier Worte – einmal, ganz langsam, dann noch einmal.
»Ich – bin – Nicholas – Svadin.«
»Ich – bin – Nicholas – Svadin!«
Und die Menschheit hatte einen Gott gefunden.
Svadin war ein Mensch gewesen, geboren von einer Frau, hatte Männer und Frauen gezeugt. Er war der größte Mensch, den die Erde gekannt hatte. Sein Genie diente der Menschheit, und er umschloß die Menschheit mit seinen liebevollen Armen. Er war der Vater der Welt.
Svadin war ein Mann, war getötet worden, wie Menschen getötet werden, aber am dritten Tag war er auferstanden von seinem Totenbett und hatte seinen Namen laut in die Welt hinausgeschrien.
Svadin, der Mann, war zu Svadin, dem Gott, geworden.
Ich fotografierte die Weltversammlung in Leningrad, als Svadin alle Wissenschaftler der Erde zusammenrief, als er ihnen den Planeten übergab, damit sie ihn nach ihrem Willen gestalten konnten. Ich fotografierte die Versammlung in der amerikanischen Kongreßhalle, als die Herrscher der Welt ihre Völker seinen unblutigen Händen übergaben und sie wieder empfingen, wiedergeboren in einer neuen Ordnung der Demokratie. Ich sah zu, und auch meine Kamera sah zu, wie die Welt sich in diese neu geformten Bahnen der Zivilisation ergoß, und ich fand es gut so. Und dann, weil die Menschen Menschen sind und auch ein Goldenes Zeitalter allmählich seinen Reiz verliert, wandte ich mich anderen Dingen zu:
Einer Tiefsee Taucherkugel, die in den dunklen Fluten von ihrem Kabel gerissen wurde.
Fischereiflotten, die nach Wochen und Monaten auf hoher See mit leeren Laderäumen zurückkamen.
Aalen, die ihre alten Jagdgründe verlassen hatten. Lachsen, die sich nur dutzendweise vermehrten, wo einst ganze Ströme von ihren lustvollen Körpern überquollen.
Ein Frachtschiff, mit Rindern an Bord, die mitten im Atlantik verloren gingen – spurlos.
Zwei Männern und einem Mädchen, deren Namen auf den Passagierlisten aller Schiffe standen, die das Unglücksgewässer des Nordatlantik überquerten.
Und aus dem Süden kamen vage Gerüchte von einem Gott.
Die sonnenüberfluteten Strände Miamis waren schwarz von menschlichen Insekten. Heiße Rhythmen durchpochten die Tropennacht von Miami, die Tänzer wiegten sich im Takt der Musik. Maria Elsa Sturm wiegte sich in den starken, jungen Armen Rudolf Weltmanns und lachte mit ihren nachtblauen Augen und den vollen Lippen. Aber Heinrich Sturm stand allein in der Sternennacht und starrte nachdenklich auf das schlafende Meer. Maria badete in der sengenden Hitze der Mittagssonne, eine schlanke, goldbraune Flamme neben ihrem dunkleren, gutaussehenden Begleiter, aber die alten, glanzlosen Augen Heinrichs starrten vorbei an ihrer Schönheit hinaus aufs Meer.
Lange Wellen fluteten träge aus der fernen Bläue des Golfstroms heran, schwollen an, sanken in sich zusammen, schwollen wieder an, überspülten, von lauwarmem weißem Schaum gekrönt, den Sandstrand. Fröhliches Gelächter klang auf. Regenbogenfarben spielten in kaleidoskopischer Üppigkeit unter der goldenen Sonne. Eine Welle nach der anderen rollte vom blauen Horizont heran, hob sich und fiel herab. Und dann kam eine Welle, die nicht in sich zusammensank.
Sie kam, so wie die anderen gekommen waren, langsam, blaugrün und gleißend im Sonnenlicht. Sie hob und senkte sich in der unablässigen Flut des Atlantik, hob sich vor der weißen Kurve der Bucht. Sie war wie ein Wasserwall, meilenlang, rauschte dem Strand entgegen mit der Laufgeschwindigkeit eines Menschen. Die Badegäste ergriffen die Flucht, doch sie wurden gefangen.
Helle Farbpunkte drehten sich in trägen Wasserwirbeln. Wasserzungen leckten über den warmen Sand, ließen ihn naß und knochenweiß zurück, flössen langsam zurück in das monströse Ding, das da in der heißen Sonne stand.
Es war ein meergrüner Grabhügel, ein meilenlanger Berg aus grünem Schlamm, Apfeljadegrün, chrysoprasgrün, graugrün wie Flintenstein. Es war ein katastrophales Ding, das man weder aus der Bibel noch aus der Menschheitsgeschichte kannte, ein Ding, das wie eine riesige Pestbeule aus Meeresschleim über dem warmen weißen Strand von Miami lag, der nun schwer war von laufenden, schreienden Menschen – ein Ding, das Hunger hatte und fressen mußte.
Helle Fetzen drehten sich in seinen trägen Wasserwirbeln, die aus seinen eisigen Tiefen hervorgedrungen waren. Fragmente weißer Knochen, kalkweiß und gezackt, wurden auf den Sand gespuckt. Das Ding streckte Arme aus, die wie heißes Wachs heranflossen, wissend, hungrig. Adern durchzogen diese Arme wie Bänder aus weißer Jade in grüner Transparenz, wurden blütenrosa, rosa, purpurrot.