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Eines Morgens erschien bei ihm wieder Kupfer, diesmal mit etwas verlegenem Gesicht.

»Ich weiß«, begann er mit gezwungenem Lächeln, »daß du an jenem Besuch wenig Gefallen gefunden hast; und doch hoffe ich, daß du meinen Vorschlag nicht zurückweisen, daß du mir meine Bitte erfüllen wirst!«

»Um was handelt es sich?« fragte Aratow.

»Siehst du«, begann Kupfer, immer lebhafter werdend, »es gibt hier einen Verein von Liebhabern, die ab und zu Rezitationsabende, Konzerte und selbst Theateraufführungen mit wohltätigem Zweck veranstalten.«

»Nimmt auch die Fürstin daran teil?«

»Die Fürstin nimmt an allen wohltätigen Unternehmungen teil, das macht aber nichts. Wir veranstalten einen literarisch-musikalischen Nachmittag, und bei dieser Gelegenheit kannst du ein junges Mädchen hören – ein ganz ungewöhnliches junges Mädchen! Wir wissen noch nicht recht, ob sie eine Rachel oder eine Viardot ist. Denn sie versteht ebenso gut zu singen wie zu rezitieren und zu spielen. Ein ganz erstklassiges Talent, mein Lieber! Ich übertreibe gar nicht. Nun also... willst du nicht ein Billett nehmen? In der ersten Reihe kostet es fünf Rubel.«

»Wo kommt dieses ungewöhnliche Mädchen her?« fragte Aratow.

»Das weiß ich nicht zu sagen«, erwiderte Kupfer lächelnd. »In der letzten Zeit hat sie bei der Fürstin Unterkunft gefunden. Die Fürstin protegiert ja, wie du weißt, alle solche Menschen. Du hast sie wohl auch an jenem Abend gesehen.«

Aratow fuhr zusammen – innerlich, ganz schwach –, sagte aber nichts.

»Sie hat sogar schon irgendwo in der Provinz gespielt«, fuhr Kupfer fort, »sie ist überhaupt fürs Theater geschaffen. Du wirst sie ja selbst sehen!«

»Wie heißt sie?« fragte Aratow.

»Klara.«

»Klara?« unterbrach ihn Aratow wieder: »Unmöglich!«

»Warum unmöglich? – Klara... Klara Militsch; das ist zwar nicht ihr wirklicher Name, aber alle nennen sie so. Sie wird ein Lied von Glinka singen, dann eines von Tschaikowskij und den Brief Tatjanas aus dem ›Eugen Onjegin‹ rezitieren. Nun, nimmst du ein Billett?«

»Wann findet es statt?«

»Morgen, morgen um halb zwei, in einem Privatsaal an der Ostoschenka. Ich werde dich abholen. Also ein Billett für fünf Rubel? Da ist es... Nein, es ist eines für drei. Hier. Da hast du auch das Programm. Ich gehöre zu den Veranstaltern.«

Aratow wurde nachdenklich. Platonida Iwanowna kam in diesem Augenblick ins Zimmer und wurde unruhig, als sie sein Gesicht sah.

»Jascha«, rief sie aus, »was hast du? Warum bist du so bestürzt? Fjodor Fjodorowitsch, was haben Sie ihm gesagt?«

Aratow ließ aber seinem Freund nicht Zeit, die Frage der Tante zu beantworten, entriß ihm hastig das Billett und sagte Platonida Iwanowna, daß sie Kupfer sofort fünf Rubel geben solle.

Die Tante wunderte sich und zwinkerte mit den Augen. Sie gab aber Kupfer das Geld und sagte kein Wort. Jascha hatte sie gar zu streng angefahren.

»Ich sage dir – ein Wunder aller Wunder!« sagte Kupfer und stürzte zur Tür. »Erwarte mich morgen!«

»Hat sie schwarze Augen?« rief ihm Aratow nach.

»Wie Kohle!« antwortete Kupfer, lachte vergnügt und verschwand.

Aratow zog sich in sein Zimmer zurück, Platonida Iwanowna blieb aber ganz starr stehen und flüsterte immer vor sich hin: »Gott hilf! Hilf Gott!«

IV

Als Aratow und Kupfer kamen, war der große Saal im Privathaus an der Ostoschenka schon zur Hälfte gefüllt. In diesem Saal fanden zuweilen Theateraufführungen statt, aber diesmal waren weder Dekorationen noch ein Vorhang zu sehen. Die Veranstalter hatten sich darauf beschränkt, an dem einen Ende des Saales ein Podium zu errichten, ein Klavier, einige Notenpulte und einen Tisch mit einer Wasserkaraffe und einem Glas hinzustellen und die Tür zu dem für die Mitwirkenden bestimmten Zimmer mit rotem Tuch zu verhängen. In der ersten Reihe saß bereits in hellgrüner Toilette die Fürstin; Aratow wechselte mit ihr kaum einen Gruß und ließ sich in einiger Entfernung von ihr nieder. Das Publikum war recht gemischt; die studierende Jugend war in der Überzahl. Kupfer, der als Veranstalter eine weiße Schleife am Fracklatz hatte, lief hin und her und tat sehr geschäftig. Die Fürstin sah sich in sichtbarer Erregung fortwährend nach allen Seiten um, lächelte und sprach die in ihrer Nähe Sitzenden an. Sie war übrigens von lauter Männern umgeben.

Als erste Nummer trat ein Flötist von schwindsüchtigem Aussehen aufs Podium und spuckte, ich wollte sagen, blies höchst gewissenhaft ein gleichfalls schwindsüchtiges Stück; zwei Zuhörer schrien »Bravo!« Dann erschien ein dicker Herr mit Brille, von solidem, sogar griesgrämigem Aussehen, und las mit Baßstimme eine Skizze von Schtschedrin. Man applaudierte, doch nur der Skizze und nicht ihm. Darauf erschien der Pianist, den Aratow schon kannte, und hämmerte die gleiche Lisztsche Fantasie herunter; der Pianist errang sogar einen Hervorruf. Er verbeugte sich, wobei er sich mit einer Hand auf die Stuhllehne stützte und nach jeder Verbeugung die Mähne schüttelte – ganz wie Liszt! Endlich, nach einer recht langen Pause, geriet das rote Tuch hinter dem Podium in Bewegung, die Tür ging weit auf, und auf dem Podium erschien Klara Militsch. Man begrüßte sie mit lebhaftem Applaus. Sie ging mit etwas unsicheren Schritten bis an den vorderen Rand des Podiums und blieb, die etwas großen, schönen unbehandschuhten Hände gekreuzt, ohne Verbeugung, ohne Kopfnicken und ohne Lächeln unbeweglich stehen.

Sie war etwa neunzehn, groß, etwas breitschultrig, doch gut gebaut. Ihr dunkles Gesicht erinnerte an eine Jüdin oder Zigeunerin; sie hatte schwarze, nicht sehr große Augen unter dichten, fast zusammengewachsenen Brauen, eine gerade, etwas aufgeworfene Nase, schöne, doch stark geschwungene Lippen, einen dicken, schwarzen, anscheinend sehr schweren Zopf, eine niedere, unbewegliche, wie aus Stein gemeißelte Stirn und winzige Ohren. Der Ausdruck war nachdenklich, beinahe streng. Alles zeugte von einer leidenschaftlichen, eigensinnigen, wohl kaum gutmütigen und klugen, aber sicher talentierten Natur.

Sie stand eine Weile mit gesenkten Lidern da, fuhr plötzlich zusammen und ließ einen durchdringenden, doch zerstreuten, gleichsam nach innen gekehrten Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen.

»Was für tragische Augen sie hat!« bemerkte hinter Aratows Rücken ein grauhaariger Geck mit dem Gesicht einer Revaler Kokotte, ein in Moskau allen bekannter Journalist und Kundschafter. Der Geck war dumm und wollte eine Dummheit sagen, sagte aber die Wahrheit!

Aratow, der von Klara keinen Blick wenden konnte, erinnerte sich jetzt, daß er sie tatsächlich schon bei der Fürstin gesehen hatte; er hatte sie nicht bloß gesehen, sondern auch bemerkt, daß sie ihre dunklen, starren Augen einigemal mit besonderem Ausdruck auf ihn richtete. Und auch jetzt – oder kam es ihm bloß so vor –, als sie ihn in der ersten Reihe erblickte, errötete sie vor Freude und sah ihn wieder durchdringend an. Dann trat sie, ohne sich umzuwenden, einige Schritte in der Richtung zum Klavier zurück, an dem schon der langhaarige Ausländer saß. Sie sollte Glinkas Lied »Kaum hab' ich dich erkannt...« singen. Sie sang es, ohne die Haltung der Hände zu verändern und ohne in die Noten zu blicken. Sie hatte eine melodische, weiche Altstimme, sprach die Worte deutlich, mit starker Betonung aus und sang etwas eintönig, ohne Nuancierung, aber mit starkem Ausdruck.

»Das Mädel singt mit Überzeugung!« sagte der gleiche Geck hinter Aratows Rücken und hatte wieder recht.

Man rief von allen Seiten: »Bravo! Bis!« sie aber warf nur einen schnellen Blick auf Aratow, der weder schrie noch klatschte – ihr Gesang hatte ihm nicht gefallen –, machte eine leichte Verbeugung und ging, ohne den ihr vom langhaarigen Pianisten angebotenen Arm zu nehmen. Man rief sie heraus. Sie kam nach einer längeren Weile, näherte sich mit den gleichen unsicheren Schritten dem Klavier, flüsterte dem Pianisten einige Worte zu, der an Stelle der bereitgelegten Noten andere heraussuchen mußte, und begann das Tschaikowskijsche Lied: »Nur wer die Sehnsucht kennt...« Dieses Lied sang sie etwas anders als das erste: mit gedämpfter Stimme, gleichsam müde. Aber in der vorletzten Zeile: »Begreift, wie sehr ich litt« ließ sie einen heißen, gellenden Schrei erklingen. Die Schlußworte aber: »Und wie ich leide...« flüsterte sie, das letzte Wort schmerzvoll dehnend. Das Lied gefiel dem Publikum weniger als das von Glinka, aber man klatschte ebensoviel.