Wütend befahl er: »An die Ruder!«
Schläfrig kamen die Ruderer dem Befehl nach, doch Pack fragte sofort: »Wir kehren in den Hafen zurück?«
»Nein«, belferte Sir Toby, »wir halten geradewegs auf diesen Kahn zu. Wir werden den Kerl festnehmen. Einmal im Gefängnis, werde ich ihn schon dazu bringen, endlich den Mund aufzumachen, um zu hören, was wir wissen wollen.«
»Sie denken also noch immer, daß der Korsar mit diesem Kind unter einer Decke steckt?«
»Genau das denke ich.«
Auf ein Zeichen hin tauchten die Ruder gemeinsam ins Wasser, und das Zollboot schoß, so schnell es die kräftigen Arme der Männer zuließen, auf den verdächtigen Anglerkahn zu.
Bald befanden sich die beiden Wasserfahrzeuge Bord an Bord nebeneinander.
»Hoch mit dir, Bursche!« schrie Allsmine. »Auf! Kratz dein bißchen Grips, das du noch im Schädel hast, zusammen, um mit mir zu reden.«
Der rüde Ton blieb ohne Resultat. Sir Toby stieß einen Schrei aus, als er sich über die Bordwand beugte.
Das Boot war leer. Silly war verschwunden!
Neuntes Kapitel
Lotia findet ihr Lächeln wieder
Was war dem Jungen zugestoßen? War er ins Wasser geglitten? Hatten ihn die Fluten, diese gewaltigen Menschenfresser, gar verschlungen? Es blieb ein Geheimnis!
Das Zollboot mußte zum Hafen zurück. Es hatte das verlassene Boot im Schlepptau. Die Ruderer waren niedergeschlagen. Abergläubische Furcht lag auf ihren Gesichtern, und manch einer schaute mit ängstlichem Blick zu den Ufern der Bucht und erwartete, Korsar Triplex, in eine Wolke aus Rauch und Feuer gehüllt, auftauchen zu sehen.
Ganz entschieden nahm der Feind von Sir Toby immer mehr die Ausmaße einer Legende an. Für die einfachen und gläubigen Männer der Mannschaft war nur er es gewesen, der den armen Silly hatte verschwinden lassen. Magie und Wunderglaube vermischten sich. Zauberei hatte bewirkt, daß sich Silly in Luft auflöste.
Nicht minder besorgt zeigte sich auch der Chef der Polizei. Wieder einmal war seine Absicht zunichte gemacht worden. Der rote Faden, der ihm in diesem geheimnisvollen Kampf als Richtschnur dienen sollte, war zerrissen. Mehr als die anderen Male zuvor tappte er im dunkeln. Wut und Angst zerrten an seinen strapazierten Nerven.
Was sollte er jetzt tun? Welches neuerliche Unglück erwartete ihn wohl?
Und mit einemmal erinnerte er sich wieder an das Treffen mit Armand Lavarède, das für diesen Morgen vereinbart worden war. Ohne Muße zu haben, sich zu erholen, ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen, mußte er zu Pferd den Franzosen nach Broken Bay begleiten, um ihm zu beweisen, daß der Ägypter Niari dort nicht interniert war.
Zweifellos würde das ein angenehmer Spazierritt werden, dem er sich unbeschwert widmen würde, denn der Gefangene war des Nachts entsprechend seinem Befehl nach Sydney transportiert worden, doch hätte Allsmine es gern vorgezogen, allein zu bleiben und ein wenig nachzudenken.
Ach, die Ereignisse folgten zu unmittelbar aufeinander! Jetzt war es unmöglich, die Exkursion zu verschieben. Schließlich hatte ihm Lavarède ja einen unschätzbaren Dienst erwiesen, als er die Platten vernichtet hatte, die ihn der Lächerlichkeit preisgegeben hätten.
Die Schaluppe legte am Kai an, an derselben Stelle, von der sie abgelegt hatte. Allsmine und James Pack sprangen an Land, während Dove die Matrosen entließ, die auch sofort machten, daß sie nach Hause kamen, wo sie, bevor sie eine verdiente Mahlzeit zu sich nahmen, nicht versäumen würden, des langen und breiten ihren Frauen, ihren Nachbarn, ihren Freunden und Bekannten die Ereignisse der Nacht zu schildern. Und das in den glühendsten Farben.
Jedenfalls war es gegen acht Uhr, als sich Sir Toby und Armand Lavarède nach einem kräftigen Handschlag anschickten, in die Sättel ihrer Pferde zu steigen, stadtbekannt, daß Silly vor den Augen der Polizei von einem Ungeheuer, das aus der Meerestiefe aufgetaucht wäre und dessen Augen wie Scheinwerfer gestrahlt hätten, entführt worden war.
Allsmine wußte von dieser Legende noch nichts. Neben Armand reitend, durchquerte er mit ihm die Stadt, wobei ihnen eine kleine Eskorte von Polizeibeamten folgte. Bald hatten sie den Vorort Richmond hinter sich gelassen und schwenkten in die Broken-Bucht ein, die von dem Fort beherrscht wurde, zu dem die Reiter unterwegs waren.
Der Journalist war von der Freundlichkeit Sir Tobys sehr beeindruckt und entschuldigte sich bei ihm für den Aufwand, den er ihm bereitete, doch Toby, der froh war, daß nach dem mißglückten Vorfall mit Triplex wieder jemand nett zu ihm war, tat es mit den Worten ab: »Reden Sie nicht weiter darüber, ich bitte Sie, es ist mir ein Vergnügen.«
Nun, vielleicht war es das wirklich, denn die aufgehende Sonne hatte das Land mit einem goldenen Schimmer überzogen, der Allsmines Gemüt außerordentlich wohltat. Einmal würde er den Korsaren doch besiegen. Einmal würde der doch eine Unvorsichtigkeit begehen. Nichts macht nachlässiger als stetiger Erfolg! Und feierte er nicht in diesem Augenblick einen ersten Sieg, indem er die Pläne seines Gegners vereitelte, der versucht hatte, den französischen Journalisten auf Niari anzusetzen, diesen belastenden Zeugen, der fähig wäre, Roberts Identität zu beweisen. Diesmal würde er triumphieren. Puff over!
Aber die Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Der Weg führte über einen bewaldeten Hügel. Kurz bevor sie sich dem Wäldchen näherten, hörten sie Stimmengewirr. Das war eine Mischung aus Stöhnen, Seufzen und verschreckten Ausrufen. Man hätte meinen können, Menschen erflehten etwas, was andere ihnen verweigerten. Neugierig geworden, gaben die Reiter ihren Pferden die Sporen. Sie ritten um einen Eukalyptushain, der wie eine Halbinsel auf den Weg ragte, und da bot sich ihren Augen ein bizarres Schauspiel.
Auf dem Weg palaverte eine Bauernmenge, wobei sie die Arme emporreckte und sich in umständlichen Erörterungen erging, sich jedoch in respektvoller Entfernung eines Dutzends von Individuen hielt, die wie Polizisten gekleidet und sorgfältig und gewissenhaft an die Bäume am Wegrand gebunden waren. Die Festgebundenen baten mit flehentlicher Stimme die Landleute, sie doch ihrer Fesseln zu entledigen, was letztere entschieden ablehnten. Die neu Hinzugekommenen begriffen auch sehr schnell, weshalb. Über dem Kopf eines jener Unglücklichen war mit einem Dolch ein weißer Karton am Baum befestigt, auf dem sich folgende schwarze Schrift abhob:
»Daß sich ja keiner untersteht, jene anzurühren, die Korsar Triplex bestraft hat! Der Polizeichef selbst wird heute morgen auf diesem Weg entlangreiten. Ihm soll es obliegen, seine Angestellten zu befreien. Mag er auch diesmal seine Ohnmacht erkennen, die Pläne von Triplex zu durchkreuzen. Friedlichen Passanten garantiere ich Hilfe, Schutz, Freundschaft. Schmach über die, die meine Befehle mißachten!«
Beim Anblick Allsmines, der in der Gegend wohl bekannt war, verstummten die Stimmen.
Der Polizeichef gab ein Zeichen. Daraufhin stiegen die Männer seiner Eskorte ab, liefen zu ihren Kameraden und schnitten jenen die Stricke durch.
Kaum war das geschehen, so näherte sich Sir Toby verlegen ein schon älterer Korporal, der der Anführer der Opfer des Korsaren zu sein schien, schlug die Hacken zusammen, legte die Hände an die Hosennaht und wartete darauf, daß ihn sein Vorgesetzter über das Vorgefallene befragte.
»Was tun Sie denn da?« fragte letzterer stirnrunzelnd.
»Ich habe starke Beschwerden, Euer Ehren. Der Stamm eines Eukalyptusbaumes ist weniger weich als eine gute Wollmatratze, und mein Rücken hatte fast acht Stunden das Vergnügen.«
»Das glaube ich gern. Aber wer hat denn Sie und Ihre Männer in diesen beklagenswerten Zustand versetzt?«