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Auf dem Trottoir machte Lotia einem Zeitungsverkäufer ein Zeichen, näher zu kommen. Wortlos griff sie nach einer Zeitung, die der herbeigeeilte Lavarède bezahlte, warf einen Blick auf die Schlagzeile und ging mit dem gleichen Schritt zurück. Mechanisch stieg sie die Treppe zu ihrem Appartement empor, ohne sich weiter um die im Klubraum sitzende Aurett zu kümmern, öffnete ihre Zimmertür und drückte auf den Knopf des elektrischen Lichts.

Die Lampen flammten auf und tauchten das Zimmer in gleißende Helle. Sie faltete die Zeitung auseinander, ihre Augen starrten auf die schreckliche Nachricht. Mit blutleeren Lippen überflog sie den Artikel, in dem die Einzelheiten des Selbstmordes beschrieben wurden. Nicht eine Träne netzte ihre Augen; nur das mechanische Buchstabieren ihrer Lippen zeigte die innere Bewegung.

»Tot«, sagte sie nur.

Plötzlich sank sie ohnmächtig in die Arme von Aurett, die schon einige Zeit hinter ihr gestanden hatte.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf einem Sofa. Vor ihr knieten Armand und dessen Frau und hielten ihre eiskalten Hände umklammert.

Schlagartig kam ihr die Erinnerung; ihr Blick spiegelte blankes Entsetzen wider. Mühsam brachte sie nur immer wieder ein Wort hervor: »Tot, tot, tot …«

Ihre Hoffnungslosigkeit machten Aurett und Armand stumm. Was hätten sie ihr auch Beruhigendes sagen sollen? Sie selbst hatten ja auf ihrer Weltreise ähnliches durchgemacht. Nichts würde Lotias Leid lindern können. Noch immer wiederholte sie, stumpfsinnig vor sich hin blickend, dieses eine Wort.

Plötzlich zuckten Aurett und Armand zusammen. Es hatte leise an die Tür geklopft. Bevor sie noch reagierten, öffnete sich die Tür jedoch, und James Pack betrat das Appartement.

Er machte eine hilflose Geste.

»Ich fürchte, ich komme zu spät«, sagte er. »Ich war zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, so daß ich versäumt habe, Sie zu benachrichtigen.«

Sein Erscheinen zeitigte seltsame Wirkung. Lotia war anscheinend wieder zu sich gekommen, denn sie schaute den Buckligen aus großen, dunklen Augen fragend an.

»Ich hätte früher kommen müssen«, fuhr der Sekretär fort, »wenn auch nur auf einen Sprung. Aber ich war so beschäftigt, hatte soviel am Hals …« Er lächelte verlegen. »Nun, Miß Lotia, Sie müssen mir glauben. Man stirbt nicht so ohne weiteres, wenn man eine so charmante Person wie Sie liebt. Verlangen Sie keine Erklärung von mir, ich muß schweigen. Folgen Sie morgen abend nur der Person, die Ihnen und Ihren Begleitern sagen wird: James Pack schickt mich! Folgen Sie dieser Person, und Sie werden den Beweis haben, daß …«

»Daß was?« unterbrach ihn die Ägypterin.

»Daß trotz aller Umstände, die dagegen sprechen, trotz der Meldungen in der Zeitung und obwohl er bleich und starr in seinem Sarg liegen sollte und man sich anschickt, ihn in die Erde zu versenken …, verstehen Sie …«

»Was denn, reden Sie!«

»Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, Miß Lotia; ich schwöre Ihnen, Mr. Lavarède und Mrs. Aurett Lavarède …«

»Wir glauben Ihnen, reden Sie.«

»Ich schwöre Ihnen, daß der verstorbene Robert Lavarède, fälschlicherweise als Korsar Triplex angesehen, sich bester Gesundheit erfreut.«

»Aber dieser Selbstmord, dieser Tod …?«

»Sind das Geheimnis eines Mannes, der sein Leben dafür geopfert hat, von anderen begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Dringen Sie nicht weiter in mich, mir ist nicht erlaubt zu sprechen; doch glauben Sie mir, was ich Ihnen sage: Dem Verblichenen geht es gut.«

Und indem er Lotias Hand ergriff und sie küßte, sagte er: »Kein Wort, nicht wahr, äußerstes Stillschweigen. Morgen werden Sie alles wissen.«

Er verließ seine Zuhörer, die zwar beruhigter als zuvor, wenn auch nicht minder erstaunt waren.

Sechzehntes Kapitel

Eine Vision auf dem Friedhof

Vierundzwanzig Stunden später herrschte bei den Totengräbern des Friedhofs von Killed Town eitel Freude.

Das hatte natürlich seinen Grund. Am Nachmittag war eine Abordnung aus Fort Macquarie auf dem Friedhof eingetroffen. Das war der Leichenzug desjenigen, der zu seinen Lebzeiten für die Regierung Korsar Triplex und für sich selbst Robert Lavarède gewesen war.

Gefängniswärter, Polizisten, Sir Toby Allsmine, von seinem Sekretär Pack begleitet, folgten dem dunklen Gefährt. Der Sarg wurde rasch in der Erde versenkt, wie üblich bei der Kundschaft der Haftanstalt. Dann trollten sich die Totengräber. Trinkgeld würde es ohnehin nicht geben.

Allein der Polizeichef, der seinen großen Tag hatte, vermittelte den Totengräbern einen Anteil seiner Freude in Form einer doppelten Guinee. Und da, wie einer der glücklichen Empfänger scherzhaft bemerkte, Geld zu Geld kommt, glaubte James seinem Vorgesetzten nichts schuldig bleiben zu müssen, indem er dessen Trinkgeld noch verdoppelte.

Vier Guineen! Das passierte nicht alle Tage, daß man solch ein Glück hatte.

Und so beschloß der Obmann der Totengräber, der ehrenwerte Jeremiah Tomy Looker, zusammen mit seinen Kollegen des Toten durch ein opulentes Mahl und einen tüchtigen Schluck zu gedenken. All diese Leute, die vom Tod lebten, waren fröhliche Menschen. Die zahlreichen Speisen und die noch zahlreicheren Schnäpse ließen den Frohsinn der solcherart »Gedenkenden« derart anschwellen, daß einer der Zecher gar die Befürchtung äußerte, sie könnten den Schlaf derjenigen stören, die hier zur ewigen Ruhe gebettet worden waren.

Ein schallendes Gelächter war das Echo, und ein anderer sagte: »Bah! Sogar wenn Korsar Triplex selbst uns bitten sollte, weniger laut zu sein, meiner Treu, wir würden ihm einen Brandy anbieten, und er würde gewiß nicht ablehnen.«

»Ja, ja«, sagte einer der Zecher mit schwerer Zunge, »er wird singen, davon die Ohren uns gar klingen, hihi.«

»Was redest du da?«

»Der Anblick eines Auferstandenen ist alles andere als angenehm.«

Ein Geschnatter und Geplapper war die Antwort. War der Kerl tatsächlich schon so blau, daß er ihnen – gewissermaßen Fachleuten auf dem Gebiet – klug kommen mußte? Da wußten sie doch ganz andere Geschichten zu erzählen. Und je eifriger der Krug kreiste, desto schrecklicher wurden die Geschichten von auferstandenen Toten und wandelnden Gerippen und Gespenstern und umherflatternden Seelen und und und … Kurz, es war ein anschauliches Bild aller Gruselgeschichten, die naive Gemüter schrecken können. Und natürlich hatte jeder der Anwesenden alles, was da zusammengesponnen wurde, mit eigenen Augen erlebt.

»Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich lüge!« schrie Jeremiah.

Nun, das Schicksal meinte es nicht gar so schlecht mit ihm. Er fiel nicht.

Es war bereits Mitternacht, als der Brandy zur Neige ging und sich die Totengräber anschickten, nach Hause zu torkeln. Nur Jeremiah, der gleichzeitig auch der Friedhofswächter war, würde über Nacht auf dem Friedhof bleiben.

»Ich mach gleich meine Runde«, sagte er zu den Zechbrüdern, als er sie zum Tor brachte. »Soll niemand behaupten, daß Jeremiah Tomy Looker mit ’ner Flasche Brandy im Bauch seine Pflicht nicht tut! Oder waren es zwei Flaschen?«

Mit zitternden Händen versuchte er, seine Laterne anzuzünden. Beim zehnten oder zwanzigsten Versuch gab er es auf.

»Bah!« murmelte er, »der Mond scheint ja, seh ich allemal genug.«

Und er torkelte davon.

»Feiner Brandy«, murmelte er, »wirklich erstklassig. Dreht sich mir direkt der Kopf, könnte man meinen. Frische Luft wird mir guttun.«

Der Mond stand wolkenlos am Himmel, wie er gesagt hatte, doch nach dem heißen Tag stieg in der Kühle der Nacht jetzt Dunst von der Erde auf; ein Tischtuch aus Nebel – so wirkte es.

»He, he«, brummte der Betrunkene. »Nebel. Fehlt mir gerade noch. Soll mir der Teufel den Hals umdrehn, aber entweder ist es trübe, oder ich sehe trübe. Verdammter Nebel, mach, daß du verschwindest.«