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Bald hörte man einen dumpfen Ton.

»Der Sarg«, sagte dieselbe Stimme, die Looker schon vernommen hatte. »Springt hinab und befestigt die Gurte.«

Zwei Schatten schienen in die Erde hinabzutauchen. Das war zuviel für die strapazierten Sinne von Looker. Er preßte die Hände vor die Augen.

»Nein …, das kann ich nicht mit ansehen … Der Tote wird sich erheben … Ach, wenn ich es doch genauso machen und mich in Sicherheit bringen könnte.«

Es war ein überflüssiger Wunsch, denn da er an allen Gliedern zitterte, zudem besoffen und verängstigt, war er außerstande, eine Bewegung zu machen.

Er sah nichts, aber seine Ohren vermittelten ihm deutlich, was vor sich ging. Er vernahm das Festzurren der Seile am Sarg, das Reiben des Eichenholzes an den Grubenwänden, das Absetzen der Last auf dem Erdboden.

Danach signalisierte ein leichtes Knirschen, daß man den Sargdeckel entfernt hatte.

Eine Frauenstimme sagte: »Wie bleich er ist.«

Und die männliche Stimme, die er nun schon zweimal vernommen hatte, antwortete: »Seine Wangen werden wieder frisch aussehen, Miß, seien Sie unbesorgt. Zum Glück ist es Brauch, daß man die verstorbenen Häftlinge mit allem bestattet, was sie auf dem Leibe tragen. Sonst hätte unser Freund bei diesem Nebel eine ernsthafte Lungenentzündung riskiert.«

Ein Toter, der Schnupfen bekommt, ein erkälteter Leichnam … Diese absurde Idee raubte Looker die letzten Kräfte. Ohne daß er seine Hände daran hindern konnte, bedeckten sie sein Gesicht, und aus schreckgeweiteten Augen sah er …

Er sah, daß das Wesen, das soeben gesprochen hatte, die Hand hob. Zwischen den Fingern blitzte im Mondlicht ein glänzender Gegenstand, in dem er einen kleinen Kristallflakon zu erkennen meinte.

»Hier ist das Gegenmittel«, sagte die Erscheinung.

Dann beugte sich die menschliche Erscheinung – der Totengräber hätte es niemals gewagt, ihn als Menschen zu bezeichnen – über den Sarg und flößte dem Verblichenen den Inhalt des Fläschchens ein.

Als das getan war, richtete er sich auf und sagte ruhig: »In einer Minute wird er wieder auf den Beinen sein.«

O die unendliche Minute. Looker konnte seinen Blick nicht vom Sarg reißen. Mit Schaudern vermischte Neugier ließ ihn darauf warten, daß sich das Wunder vollzöge.

Plötzlich gab es ein Poltern in der länglichen Kiste. Dann war es ein Geräusch, als zerrisse man Stoff, und allmählich und bedächtig erschienen erst der Kopf und dann der Oberkörper des Toten.

Der Korsar saß in seinem Sarg!

Zwei Schreie ertönten.

»Er lebt!«

»Er lebt, um dich zu schauen, meine geliebte Lotia. Er lebt, um dich nie mehr zu verlassen.«

Das waren die Worte des vermeintlich Toten. Er stieg aus dem Sarg, reckte sich, ging auf die Frau zu und nahm sie in die Arme.

Noch einmal ergriff derjenige, der bisher gesprochen hatte, das Wort: »Los, wir müssen verschwinden!«

Schweigend kam die Gruppe der Aufforderung nach. Der Korsar nahm die junge Frau, mit der er geredet hatte, bei der Hand, und alle verschwanden wie bei einer Prozession geistergleich zwischen den Gräbern, während der Totengräber – am Ende seiner Kräfte – zu Boden sank und nicht wußte, ob er wachte oder träumte.

Der bescheidene Wächter der Nacht, der Mond, verblaßte in den ersten Morgenstrahlen, als der ehrenwerte Jeremiah Tomy Looker die Augen öffnete. Unmerklich war er aus seinem Staunen in den Schlaf geglitten, und der Rausch des Betrunkenseins war verflogen.

Zunächst hatte er sich gewundert, in einer Gasse des Friedhofs geschlafen zu haben, dann erinnerte er sich allmählich wieder.

»Zum Teufel!« schimpfte er und schien bestürzt. »Ich hab ja hier die Nacht verbracht! Teufel! Teufel! Das ist dieser gottverdammte Brandy, der mich umgehaun hat. Ab jetzt keinen Brandy mehr; Gin und Whisky sind auch was für Männer.«

Dann erinnerte er sich allmählich.

»Und was für ein Alptraum. Dieser Korsar, der aus seinem Grab steigt. Ach, hat man komische Ideen, wenn man Brandy trinkt.«

Der ehrenwerte Mann lachte; seine Freude war jedoch kurz, denn wieder kam ihm in den Sinn, daß er ja seine Unterkunft so schnell wie möglich aufsuchen mußte.

Umständlich erhob er sich und war schon im Begriff, sich auf den Weg zu machen.

Nein, zunächst muß ich am Grab des Korsaren vorbeischauen, dachte er. Dieser Traum verfolgt mich; ich muß sicher sein, daß das alles nur Einbildung war. Es ist ein lächerliches Unternehmen, ich weiß ja selber gut genug, daß meine Pensionäre nicht aus ihren Unterkünften verschwinden, haha …, nur, ich wäre ruhiger, wenn ich es genau wüßte.

Er ging bis zu der Weide, unter der sich das Grab von Triplex befand.

Dort blieb er starr vor Schrecken stehen.

Neben einem Erdhaufen gähnte ein Loch. Und neben diesem Loch stand der Sarg. Leer.

Der Totengräber machte den Mund weit auf, griff sich mit beiden Händen an den Kopf – eine beredte Haltung für seine Überraschung. Verdammt noch mal, er hatte also doch nicht geträumt! Was denn? Es war also doch möglich, daß die Toten hin und wieder auferstehen und den Friedhof verlassen? Kopfschüttelnd ging Looker bis zum Rande der Grube und schaute hinab. Vielleicht … Aber nein, der gestern noch so tote Korsar war nicht mehr da.

Und plötzlich schoß ihm ein noch entsetzlicherer Gedanke durch den Kopf: Man wird mich dafür verantwortlich machen. Wenn das die Verwaltung erfährt! O Gott, o Gott! Eine hübsche Affäre!

Und nachdem er sich eine Viertelstunde lang diesem Gedanken ausgiebig gewidmet hatte, kam dem armen Teufel eine geniale Idee: Bin ich dumm, sagte er sich. Die Polizei ist doch zuständig für verlorene Gegenstände. Also …, selbst wenn ich bei dem Obersten Polizeichef vorsprechen müßte. Dieser Beamte hat sicher besonderes Interesse an meinem Ausreißer, das beweist ja sein reichliches Trinkgeld. Das ist es. Ich werde zu Mr. Allsmine gehen.

Gesagt, getan. Looker suchte sein Domizil auf, wusch und kämmte sich und machte sich dann sofort auf zu dem Haus in der Paramata Street.

»Sir Toby Allsmine?« fragte er den Türwächter.

Der Diener wies ihn mit imposanter Geste ab.

»Es ist noch nicht einmal sieben Uhr, mein Lieber. Kommen Sie später noch einmal vorbei.«

»Ich muß aber den Herrn Oberchef sofort sehen«, bestand der Totengräber auf seinem Vorhaben. »Ich muß. Seien Sie versichert, er wird es Ihnen nicht verzeihen, wenn Sie mich nicht sofort vorlassen.«

Diese Selbstsicherheit beeindruckte den Türhüter. Er entschloß sich, seinen Dienstherrn so sachte wie möglich von dem frühen Besucher in Kenntnis zu setzen.

Sir Toby hatte sich gerade von einem erquicklichen Schlaf erhoben. Als er erfuhr, daß ihn ein Angestellter des Friedhofs zu sprechen wünsche, lief es ihm kalt über den Rücken. Was wollte dieser Mann von ihm? Das einfachste, es zu erfahren, wäre, den Mann zu empfangen. Also gab Sir Toby Anweisung, den Mann hereinzuführen.

»Sie kommen sehr früh, Kerl«, sagte er zu Looker, als dieser eingetreten war. »Ihr Anliegen muß schon außerordentlich sein, daß ich diese frühe Störung toleriere.«

»Euer Ehren mögen entschuldigen, aber ich bin sicher, es ist etwas Außerordentliches.«

»Worum handelt es sich?«

»Um Korsar Triplex.«

Allsmine stutzte, beruhigte sich jedoch sofort wieder.

»Gut. Aber das lohnt nicht mehr die Mühe. Wir haben ihn gestern begraben …«

»Zweifellos, zweifellos!« unterbrach ihn der Totengräber. »Nur hat er den Friedhof heute nacht wieder verlassen.«

»Er hat ihn verlassen? Wie denn? Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Polizist, dessen Gesicht kreideweiß geworden war.