»Wie ich Euer Ehren schon gesagt habe. Diese Nacht hat der Korsar seinen Sarg verlassen und sich gemächlich aus dem Friedhof entfernt.«
»Was ist das für eine Geschichte?«
»Die Wahrheit, Exzellenz. Ich habe es selbst gesehen.«
»Sie?«
»Ja. Ich machte gegen Mitternacht die vorgeschriebene Runde und habe die Auferstehung des Verblichenen selbst miterlebt.«
Allsmine schaute sein Gegenüber aufmerksam an. Offensichtlich fragte er sich, ob ihm nicht ein Verrückter gegenüberstand.
Looker schien diesen Gedanken zu ahnen.
»Wenn Euer Ehren mich zum Friedhof begleiten will? Dann kann sich Euer Ehren selbst überzeugen, daß ich alle meine Sinne beisammen habe.«
Hastig warf sich der Polizeichef den Mantel über, griff zu Hut und Stock und machte sich zusammen mit dem Totengräber auf den Weg zum Friedhof.
Zwanzig Minuten später beugten sich beide über die Grube, in die man am Vortag im Beisein Tobys den toten Piraten gesenkt hatte.
Jetzt war es an Allsmine, zu zittern. Begierig fragte er den Totengräber aus und ließ sich die kleinsten Einzelheiten berichten.
Es war kein Zweifel möglich. Der Tote war am Leben. Der Feind, den man besiegt glaubte, hatte sich mächtiger und gefährlicher als je zuvor wieder erhoben. Es war anzunehmen, daß dieses Abenteuer, wenn es bekannt würde, dem flüchtigen Toten – nein Lebenden – ungeheures Ansehen in der Bevölkerung verschaffen würde. In diesen prosaischen Zeiten gierte ja das Volk geradezu nach legendären Figuren und Ereignissen.
Der Anblick des vergewaltigten Grabes verursachte Toby unbeschreibliches Unbehagen. Er verabschiedete sich mechanisch von dem Totengräber und verließ gedankenversunken den Friedhof. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er nur einen Feind ergreifen, dem alle Mittel recht waren, ihm zu entkommen und ihn zu narren. Selbst als Toter war er nicht tot genug!
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er hörte, wie Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen der Morgenzeitung herausschrien:
KORSAR TRIPLEX VON DEN TOTEN AUFERSTANDEN! TELEGRAMM AN DIE PRESSE! AUSSERORDENTLICH WICHTIGE ERKLÄRUNG!
Er kaufte eine Zeitung und las den betreffenden Artikeclass="underline"
Wir meldeten gestern das Begräbnis des Korsaren Triplex. Wir hatten unrecht, anzunehmen, ein so bedeutender Mann würde so gewöhnlich von hinnen gehen. Von hinnen ging er schon. Das heißt, aus Fort Macquarie. Dazu hatte er ein Narkotikum benutzt, das ihm den äußeren Anschein eines Toten verliehen hatte. Heute nacht hat er nun sein Grab verlassen. Gleichzeitig erhielten wir von ihm eine Botschaft. Wir veröffentlichen sie kommentarlos:
Heute nacht hat Korsar Triplex, der nicht tot war, sondern nur sehr ausgiebig geschlafen hat, den Friedhof verlassen, auf dem ihn gestern beizusetzen man die Ehre hatte. Diese Botschaft geht gleichlautend an die englische Admiralität und die europäische Presse. Besagte Note hat zum Ziel, die englische Flotte zu einem Rendezvous im Pazifik einzuladen. In zwei Monaten, gerechnet ab heute, werde ich die Flotte an der Goldinsel im Cookarchipel erwarten. Ich hoffe, daß dann endlich Sir Toby Allsmine seine gerechte Strafe bekommen wird.
Triplex
Als Sir Toby diese Zeilen überflogen hatte, senkte er den Kopf. Er fühlte sich machtlos gegenüber den Aktivitäten seines Feindes. Was war das nur für ein Mann, der kühn genug war, sich lebendig begraben zu lassen, und, kaum daß er dem Grab entkommen, schon wieder zur Attacke blies?
Der Polizeichef war mit den Nerven am Ende. Er hatte das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Unwillkürlich lenkte er seine Schritte zum Centennial-Park-Hotel. Er schmeichelte sich, dort Armand zu treffen und von dem findigen Journalisten vielleicht einen Rat, einen Hinweis zu erhalten. Doch eine Enttäuschung erwartete ihn! An der Rezeption erfuhr er, daß am Vorabend ein Offizier der Kriegsmarine den Pariser Journalisten aufgesucht hatte. Letzterer hatte daraufhin seine Rechnung beglichen und war noch am selben Abend mit seinen beiden Begleiterinnen abgereist.
Lavarèdes Verschwinden beunruhigte den Obersten Polizeichef der englischen Pazifikpolizei nicht wenig.
So schnell wie möglich kehrte er nach Hause zurück. Verflixt! Sollte er James Pack ins Vertrauen ziehen? In letzter Zeit war ihm dessen Verhalten immer sonderbarer vorgekommen. Er war pflichtbewußt und hatte sich immer loyal verhalten, gewiß. Aber hatte er nicht eine besondere Zuneigung zu Silly gehabt? Wußte James Pack vielleicht mehr, als er ihm gegenüber zugab? Dennoch konnte man von James Pack immer einen Rat erhoffen. Und den brauchte er jetzt.
Doch das Schicksal schien sich gegen ihn verschworen zu haben, denn er suchte seinen Sekretär vergeblich; Pack war am Morgen nicht im Büro erschienen. Verärgert schickte Allsmine einen Beamten in die Wohnung des Buckligen mit der Order, seinen Sekretär unverzüglich herbeizuschaffen.
Nach einer Stunde kam der Beamte zurück, allerdings allein. James Pack hatte am Abend zuvor das Haus verlassen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.
Allsmine wurde nachdenklich. Schließlich ergriff ihn direkt Bestürzung.
Erst Lavarède verschwunden – nun James Pack! Ein Zufall, der gerade mit der Flucht des Korsaren zusammenfiel. Nur Zufall? Oder war das der Zusammenklang eines einzigen und ausgeklügelten Planes gegen ihn? Wollte ihn der Korsar zweier Menschen berauben, auf die er im Notfall zu rechnen glaubte? Oder steckten gar diese beiden mit dem Korsaren unter einer Decke … Aber nein, das war ausgeschlossen. Ach, dieser Korsar! Der überall und nirgends war. Der unaufhörlich zuschlug. Mein Gott! Warum hatte er ihn nicht eigenhändig getötet, als er sich in seiner Hand befand? Jetzt war der Feind in Freiheit, und er würde sich hüten, sich ein zweites Mal gefangennehmen zu lassen.
Allsmine würde isoliert bleiben und den Schachzügen des Korsaren wehrlos ausgesetzt sein. Ja, er konnte diese Züge nicht einmal vorausahnen. Und zu allem Unglück würde in zwei Monaten, dem von dem Korsaren festgelegten Tag, die englische Regierung – ob nun von seiner Unschuld überzeugt oder nicht – den Polizeichef opfern, da sie seine Gegenwart von anderen wichtigen Amtsgeschäften abhielt.
Ja gewiß. Der vorausschauende Rächer hatte alles genau geplant. Er hatte ihn all seinen Getreuen entfremdet, auf die er früher zählen konnte; es war ihm sogar gelungen, seine Frau Joan wankelmütig zu machen.
Joan!
Dieser Name erschien ihm jetzt wie ein Lichtstreif in dunkler Nacht. Joan! Ja, er war ungerecht, geradezu brutal ihr gegenüber gewesen; aber doch nur angesichts einer ungeheuren Gefahr, da er nicht mehr ein noch aus wußte. Er war doch seiner Sinne nicht mehr Herr gewesen! Sie würde das sicher verstehen und ihm auch verzeihen, wenn er an ihre Großzügigkeit, die sie so oft bewiesen hatte, appellierte.
Freilich, sie war nicht mächtig genug, ihn vor dem Korsaren zu schützen; aber er wünschte ja nichts weiter als jemanden, der ihn verstand. Was er erhoffte, was er wünschte, das war jemand, mit dem er reden, dem er seine Zweifel und seine Nöte jetzt mitteilen konnte.
Er fühlte sich einsam, und er hatte Angst vor der Einsamkeit. Dieses Gefühl gewann die Oberhand über jede andere Regung. Er durfte nicht allein bleiben; um jeden Preis mußte er vermeiden, jetzt allein zu sein.
Ja, er würde Joan aufsuchen und ihr zu Füßen fallen. Schnell schritt er durch die Flure, die zu den Zimmern der unglücklichen Mutter führten. Als er ihren Salon betrat, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen. Auf Möbeln und Gegenständen schien die Schwermut verlassener Dinge zu liegen. Er ging durch all ihre Zimmer. Sein Ohr hoffte einen Ton, eine Stimme zu vernehmen, ein Indiz ihrer Anwesenheit. Nichts! Überall Schweigen. Und dieses Schweigen wurde immer schwerer, immer bedrohlicher.