»Ist gut«, sagte Krabat. Er hatte verstanden, was Juro gemeint hatte.
Es verstrich eine halbe Woche, dann mußte der Meister wieder einmal über Land reiten, für zwei Tage, vielleicht auch auf drei, wie er vor dem Aufbruch verlauten ließ.
In der folgenden Nacht wurde Krabat von Juro geweckt.
»Komm in die Küche - dort wollen wir miteinander reden.«
»Und die da?« Krabat deutete auf die Mitgesellen.
»Die schlafen so tief und fest, daß kein Blitz und kein Donner sie aufweckt«, versicherte Juro. »Dafür ist vorgesorgt.«
In der Küche zog Juro um Tisch und Stühle den Zauberkreis mit dem Drudenfuß und den Kreuzen. Er zündete eine Kerze an, die stellte er zwischen sich und Krabat.
»Ich habe dich warten lassen«, begann er. »Aus Vorsicht, verstehst du. Niemand darf ahnen, daß wir uns heimlich treffen. Ich habe dir letzten Sonntag verschiedenes anvertraut, und du wirst dir darüber inzwischen Gedanken gemacht haben.«
»Ja«, sagte Krabat. »Du wolltest mir einen Weg zeigen, wie ich mich vor dem Meister retten kann - und zugleich ist das, wenn ich dich recht verstanden habe, ein Weg, wie ich Tonda und Michal rächen könnte.«
»So ist es«, bestätigte Juro. »Wenn ein Mädchen dich lieb hat, kann sie am letzten Abend des Jahres zum Meister kommen, dich freizubitten. Besteht sie die Probe, die er ihr abverlangt, dann ist er es, der in der Neujahrsnacht sterben muß.«
»Und die Probe ist schwer?« fragte Krabat.
»Das Mädchen muß zeigen, daß sie dich kennt«, sagte Juro. »Sie muß dich herausfinden unter den Mitgesellen und sagen: Das ist er.«
»Und dann?«
»Das ist alles, was der Koraktor vorschreibt - und wenn du es liest oder hörst, wirst du meinen, das sei ein Kinderspiel.«
Krabat mußte ihm beipflichten - falls die Sache nicht, wie er einschränkte, einen Haken habe; er denke an einen geheimen Zusatz im Zauberbuch, beispielsweise, oder an einen versteckten Doppelsinn, den die Anweisung des Koraktors enthalten könnte: man müßte den Wortlaut kennen ...
»Der Wortlaut«, versicherte Juro, »ist klar und eindeutig. Aber der Meister versteht sich darauf, ihn auf seine besondere Weise auszulegen.« Er griff nach der Lichtputzschere und stutzte den blakenden Docht der Kerze herunter.
»Vor Jahren, als ich noch ziemlich neu war im Koselbruch, hat es ein Mitgeselle von uns, ein gewisser Janko, drauf ankommen lassen. Sein Mädchen ist pünktlich am letzten Abend des Jahres erschienen und hat ihn beim Müller freigebeten. >Gut<, hat der Meister gesagt, >wenn du Janko herausfindest, ist er frei und du kannst ihn dir mitnehmen, wie es geschrieben steht.< Dann hat er sie in die Schwarze Kammer geführt, wo wir zwölf auf der Stange saßen, in Rabengestalt. Er hatte uns alle gezwungen, den Schnabel unter den linken Flügel zu stecken. Da hockten wir nun, und das Mädchen war außerstande, herauszufinden, wer von uns Janko sei.
>Nun?< hat der Meister gefragt.
>Ist es der hier, am rechten Ende der Reihe - oder ist's jener dort in der Mitte oder ein anderer? Überlege es dir in Ruhe, du weißt ja, was davon abhängt.< Das wüßte sie, hat das Mädchen gesagt. Und dann hat sie nach einigem Zögern auf einen von uns gezeigt, auf gut Glück - und es hat sich herausgestellt, daß es Kito war.«
»Und?« fragte Krabat.
»Sie haben den Neujahrsmorgen nicht mehr erlebt, Janko nicht und das Mädchen auch nicht.«
»Und seither?«
»Nur Tonda hat es noch einmal wagen wollen, mit Worschulas Hilfe - aber das weißt du ja.«
Wieder blakte die Kerze, und abermals stutzte Juro den Docht zurück.
»Eines begreife ich nicht«, sagte Krabat nach langem Schweigen. »Warum hat kein anderer je versucht, diesen Weg zu gehen?«
»Die meisten«, erwiderte Juro, »kennen ihn nicht - und die wenigen, die Bescheid wissen, hoffen von Jahr zu Jahr, daß sie ungeschoren davonkommen: Wir sind zwölf, und es trifft ja nur einen in jeder Silvesternacht. Außerdem ist da noch was im Spiel, was du wissen solltest. Gesetzt, daß ein Mädchen die Probe besteht und der Meister wird überwunden, dann ist es im Augenblick seines Todes um alles geschehen, was er uns je gelehrt hat: dann sind wir mit einem Schlag weiter nichts als gewöhnliche Müllerburschen - und aus ist's mit aller Zauberei.«
»Wäre das nicht der Fall, wenn der Meister auf andere Weise zu Tode käme?«
»Nein«, sagte Juro. »Und dies ist ein weiterer Grund für die wenigen Eingeweihten, alljährlich den Tod eines Mitgesellen in Kauf zu nehmen.«
»Und du?« fragte Krabat. »Du selber hast auch nichts dagegen getan?«
»Weil ich mich nicht getraut habe«, sagte Juro. »Und weil ich kein Mädchen hab, das mich freibitten käme.«
Er spielte mit beiden Händen am Kerzenleuchter, indem er ihn auf der Tischplatte hin und her drehte, langsam und prüfend, als wollte er etwas Bestimmtes dabei herausfinden, das für ihn wichtig war.
»Daß wir uns recht verstehen«, meinte er schließlich. »Noch brauchst du dich nicht zu entscheiden, Krabat, nicht endgültig. Doch wir sollten schon jetzt damit anfangen, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um vorzusorgen, daß du dem Mädchen die Probe notfalls erleichtern kannst.«
»Aber das kann ich doch!« sagte Krabat. »Ich werde ihr in Gedanken das Nötige zu verstehen geben - das geht doch, das haben wir ja gelernt!«
»Das geht nicht«, widersprach ihm Juro.
»Nein?«
»Weil der Meister die Macht hat, das zu verhindern. Er hat es bei Janko getan - und er wird es auch diesmal tun, da besteht kein Zweifel.«
»Was dann?« fragte Krabat.
»Du mußt«, sagte Juro, »im Lauf des Sommers und Herbstes dahin zu kommen trachten, daß du imstande bist, dich dem Willen des Meisters zu widersetzen. Wenn wir in Rabengestalt auf der Stange hocken, und er gebietet uns: >Steckt die Schnäbel unter den linken Flügel!< - dann mußt du es fertigbringen, daß du als einziger deinen Schnabel unter den rechten steckst. Du verstehst mich. Indem du dich bei der Probe anders verhältst als wir übrigen, gibst du dich zu erkennen: das Mädchen weiß dann, auf welchen Raben es zeigen muß, und die Sache hat sich.«
»Was können wir also tun?« meinte Krabat.
»Du wirst deinen Willen üben.«
»Sonst nichts?«
»Das ist mehr als genug, wie du merken wirst. Wollen wir anfangen?« Krabat war einverstanden.
»Nehmen wir an«, meinte Juro, »daß ich der Meister bin. Wenn ich dir einen Befehl gebe, wirst du versuchen, das Gegenteil dessen zu tun, was ich sage. Statt also, falls ich es dir befehlen sollte, etwas von rechts nach links zu rücken, rückst du's von links nach rechts. Wenn du aufstehen sollst, bleibst du sitzen. Verlange ich, daß du mir ins Gesicht schaust, dann blickst du weg. Ist das klar?«
»Das ist klar«, sagte Krabat.
»Gut, dann beginnen wir.«
Juro deutete auf den Kerzenleuchter, der zwischen ihnen stand.
»Nimm ihn«, gebot er, »und rücke ihn näher zu dir heran!«
Krabat streckte die Hand nach dem Leuchter aus, in der festen Absicht, ihn von sich wegzuschieben, auf Juro zu - doch da stieß er auf Widerstand. Eine Kraft, die der Kraft seines eigenen Willens entgegenwirkte, griff nach ihm aus, und er war einen Augenblick wie gelähmt davon. Dann entbrannte ein stummer Zweikampf. Hier Juros Befehl - und da Krabat, der sich ihm widersetzen wollte, auf Biegen und Brechen.
Noch war er entschlossen, den Leuchter wegzuschieben. »Weg von mir!« dachte er. »Weg damit, weg damit!«
Doch er merkte, wie Juros Wille allmählich von seinem Willen Besitz ergriff, wie er ihn langsam auslöschte.
»Wie du - befiehlst«, hörte Krabat sich schließlich sagen.
Dann zog er den Leuchter gehorsam zu sich heran. Wie ausgehöhlt kam er sich vor. Wenn ihm jemand gesagt hätte, daß er jetzt tot sei, er hätte es ihm geglaubt.