Den Rappen am Zügel, geht er hinein - und richtig hockt da auf einem Feldstuhl, den Kopf in die Hände gestützt, der große Kriegsheld und Türkenfresser aus Dresden. Krabat macht, daß er sichtbar wird, räuspert sich, tritt auf den Marschall zu - und erschrickt.
Der Feldherr trägt eine schwarze Lederklappe über dem linken Auge!
»Was gibt's?« krächzt er Krabat mit rabenhaft heiserer Stimme an. »Steht Er in türkischen Diensten? Wie kommt Er zu mir ins Zelt?«
»Gehorsamst zu melden«, sagt Krabat. »Ich habe Befehl, Exzellenz da herauszuholen. Mein Roß steht bereit.«
Jetzt nimmt auch der Rappe wieder Gestalt an.
»Wenn Exzellenz nichts dagegen haben ...«, meint Krabat.
Er schwingt sich aufs Roß und bedeutet dem Marschall, hinter ihm aufzusitzen. Dann preschen sie aus dem Zelt hervor.
Die Janitscharen sind so verdutzt, daß sie keinen Finger rühren. Unentwegt »Platz da!« rufend, stürmt Krabat mit dem befreiten Marschall die Lagergasse hinunter. Bei ihrem Anblick lassen sogar die nubischen Garden des Sultans die Spieße und Säbel fallen.
»Hussa!« schreit Krabat und »Festhalten, Exzellenz!«
Niemand wagt es, sich ihnen entgegenzustellen. Schon sind sie am Ausgang des Lagers, schon draußen im freien Feld. Nun läßt Krabat den Rappen sich in die Lüfte erheben, und jetzt erst beginnen die Türken auf sie zu feuern, aus allen Rohren, das pfitscht und pfatscht nur so.
Krabat ist guter Dinge, er fürchtet die türkischen Kugeln nicht.
»Wenn die Burschen uns treffen wollten, müßten sie mit was Goldenem nach uns schießen«, belehrt er den Marschall. »Kugeln aus Eisen und Blei tun uns keinen Schaden - und Pfeile auch nicht.«
Die Schüsse verhallen, das Feuer wird eingestellt. Da hören die beiden Reiter ein Rauschen und Brausen vom Lager der Türken her, das rasch näher kommt. Krabat darf sich nicht umdrehen, während sie durch die Luft reiten; deshalb bittet er seinen Begleiter zurückzublicken.
Der Marschall berichtet von einem riesigen schwarzen Adler, der sie verfolge. »Er stößt aus der Höhe herab, die Sonne im Rücken, den Schnabel auf uns gerichtet!«
Krabat spricht eine Zauberformeclass="underline" da türmen sich zwischen dem Adler und ihnen gewaltige Wolken auf, grau und dicht, ein Gebirge von Nebeln.
Der Adler durchstößt es.
»Da!« krächzt der Marschall. »Er setzt zum Sturz an!«
Krabat hat längst begriffen, was für ein Adler das ist, der sie da verfolgt; es wundert ihn nicht im mindesten, daß er sie anruft.
»Kehrt um!« ruft der Adler, »oder ihr seid des Todes!«
Er ruft es mit einer Stimme, die Krabat kennt. Woher kennt er sie? Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen! Auf seinen Wink hin erhebt sich ein Sturm, der den Adler zurückwirft, ihn wegfegen müßte vom Himmel wie einen Flederwisch - aber weit gefehlt: der Adler des Sultans ist jedem Orkan gewachsen.
»Kehrt um!« ruft er. »Gebt euch geschlagen, bevor es zu spät ist!«
»Die Stimme!« denkt Krabat. Nun hat er sie wiedererkannt: Es ist Juros Stimme, die Stimme des Freundes, mit dem er gemeinsam als Müllerbursche gedient hat, vor vielen Jahren im Koselbruch.
»Der Adler!« berichtet der Marschall. »Gleich hat er uns eingeholt!« Plötzlich weiß Krabat auch wieder, wem diese Stimme gehört, die ihm da ins Ohr krächzt: »Sein Feuerrohr, Musketier! Warum schießt Er das Ungeheuer nicht einfach ab?«
»Weil ich nichts Goldenes hab, um damit zu schießen.«
Krabat ist froh, denn das stimmt sogar. Doch der Marschall von Sachsen, oder wer immer da hinter ihm sitzt - der Marschall reißt einen seiner goldenen Knöpfe vom Waffenrock.
»Steck Er ihn in die Flinte - und schieß Er schon!«
Juro, der Adler Juro, ist nur noch wenige Flügelschläge von ihnen entfernt. Krabat denkt nicht im Traum daran, ihn zu töten. Er gibt sich den Anschein, als ob er den goldenen Knopf in den Lauf seiner Büchse stecke: in Wirklichkeit läßt er ihn aus der Hand gleiten.
»Schieß Er doch!« drängt der Marschall. »Schieß Er doch!«
Ohne den Kopf zu wenden, drückt Krabat die Flinte auf den Verfolger ab, über die linke Schulter weg: blind, wie er weiß, nur mit Pulver geladen, ohne den Goldknopf im Lauf.
Der Schuß kracht - und plötzlich ein gellender Todesschrei: »Krabat! Kra-baa-aaht!«
Krabat erschrickt, läßt die Flinte fallen; dann schlägt er die Hände vor das Gesicht und weint.
»Krabat!« gellt es ihm in den Ohren. »Kra-baa-aaht!«
Krabat fuhr stöhnend hoch. Wie kam es, daß er mit einem Mal hier am Tisch saß - mit Andrusch und Petar und Merten und allen anderen? Wie sie ihn anstarrten, bleich und verschreckt - und wie jeder sofort den Blick senkte, wenn er merkte, daß Krabat zu ihm herübersah!
Der Meister saß wie ein Toter an seinem Platz, weit zurückgelehnt, schweigend, als lauschte er in die Ferne.
Auch Juro rührte sich nicht. Er lag mit dem Oberkörper über dem Tisch, das Gesicht nach unten, die Arme von sich gespreizt: Adlerschwingen vor wenigen Augenblicken noch, rauschende Fittiche. Neben Juro ein umgeworfener Becher. Ein Fleck auf der Tischplatte, dunkelrot: Wein oder Blut?
Lobosch warf sich mit einem Aufschluchzen über Juro hin. »Er ist tot, er ist tot!« rief er. »Krabat, du hast ihn umgebracht!«
Krabat spürte ein Würgen im Hals, er riß sich mit beiden Händen das Hemd auf.
Da sah er, wie Juro den einen Arm bewegte - und dann den anderen. Langsam, so schien es, kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Er stützte sich auf die Hände, er hob das Gesicht - einen kreisrunden roten Fleck auf der Stirn, zwei Finger breit über der Nasenwurzel.
»Juro!« Der kleine Lobosch packte ihn bei den Schultern. »Du lebst ja noch, Juro - du lebst ja!«
»Was dachtest du denn?« meinte Juro. »Wir haben die Sache doch nur gespielt. Bloß: der Schädel brummt mir von Krabats Schuß, das nächste Mal mag ein anderer diesen Jirko machen, mir reicht's, ich geh schlafen.«
Die Mühlknappen lachten erleichtert auf, und Andrusch sprach aus, was sie alle dachten: »Geh du nur schlafen, Bruder, geh du nur! Hauptsache, daß du es überstanden hast!«
Krabat saß wie versteinert am Tisch. Der Schuß und der Schrei - und der fröhliche Trubel auf einmaclass="underline" wie reimte sich das zusammen?
»Aufhören!« fuhr der Meister dazwischen. »Aufhören, ich ertrag das nicht, setzt euch nieder und schweigt!« Er war aufgesprungen, er stützte sich mit der einen Hand auf den Tisch, mit der anderen hielt er den Becher umspannt, als wollte er ihn zermalmen. »Was ihr gesehen habt«, rief er,
»es ist nur ein Alptraum gewesen, aus dem man erwacht - und dann hat sich das ... Ich aber hab die Geschichte mit Jirko nicht geträumt, damals in Ungarn: Ich hab ihn erschossen! Ich hab meinen Freund getötet, ihn töten müssen - wie Krabat es auch getan hat, wie jeder von euch es an meiner Stelle getan hätte, jeder!«
Er hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher tanzten, er griff nach dem Weinkrug und trank daraus, ungestüm, gierig. Dann warf er den Krug an die Wand und schrie: »Geht jetzt! Hinaus mit euch, alle hinaus da! Ich will allein sein - allein - allein!«
Auch Krabat wollte allein sein, er schlich aus der Mühle. Es war eine mondlose, aber sternklare Nacht. Er schritt durch die feuchten Wiesen zum Mühlenweiher - und als er hinabblickte auf das schwarze Wasser, aus dem ihm die Sterne entgegenfunkelten, spürte er das Verlangen, ein Bad zu nehmen. Er streifte die Kleider ab, glitt in den Weiher und schwamm ein paar Stöße vom Ufer weg.
Das Wasser war kalt, er bekam einen klaren Kopf davon: den konnte er brauchen nach allem, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Ein Dutzendmal tauchte er unter und wieder auf, dann kehrte er prustend und zähneklappernd ans Ufer zurück.