Bei manchen Unterhaltungen weiß man einfach, dass nichts Gutes dabei rauskommen kann, deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Roger. »Als ich dich das letzte Mal sah, hatte dich Truman in einen seiner Gefängnispferche gesperrt. Mit herausgeschnittener Zunge.«
»Und du hast mich zum Sterben dort zurückgelassen«, sagte Roger locker. »Wie ausgesprochen drood von dir! Aber inmitten des allgemeinen Chaos bin ich entkommen. Niemand hat versucht, mich aufzuhalten - niemand hat es gewagt. Und die Zunge habe ich mir wieder wachsen lassen. Wir Höllengezüchte sind sehr schwer umzubringen.«
»Und wie konnte Truman dich dann überhaupt fangen und verstümmeln?«, fragte ich, vielleicht ein bisschen bissig.
Wieder zeigte Roger mit einem Lächeln, das keins war, seine Zähne. »O bitte, als ob ich so töricht wäre, dir das zu verraten!«
»Na schön«, sagte ich. »Warum bist du hier?«
»Rache!«, erklärte Roger, und für einen winzigen Moment flackerten helle, feuerrote Flammen in seinen dunklen Augen. »Truman muss bezahlen für das, was er mir angetan hat … Aber nicht einmal ich darf hoffen, eine Organisation von der Größe des Manifesten Schicksals allein auseinanderzunehmen. Was bedeutet, dass ich Verbündete brauche, und deine Familie scheint für diese Rolle am geeignetsten. Ihr wollt ihre Vernichtung fast so sehr wie ich, und der Feind meines Feindes kann mein Verbündeter sein, wenn auch nicht mein Freund.«
»Du erwartest von uns, dass wir dir vertrauen?«, fragte der Waffenmeister.
»Natürlich nicht. Aber solange wir an einer gemeinsamen Sache arbeiten, liegt es in meinem eigenen Interesse, euch nützlich zu sein.«
»Und er ist mit mir da«, warf Harry sehr bestimmt ein. Er stand wieder neben Roger, als ob er dorthin gehörte. »Roger und ich kennen uns seit ewigen Zeiten: alte Freunde, alte Verbündete.«
»Großer Gott!«, sagte der Waffenmeister. Er klang ehrlich schockiert. »Was hast du getan, Harry, in welche Tiefen bist du gesunken, dass du auch nur in Betracht ziehen konntest, dich mit einem Geschöpf der Hölle anzufreunden?«
»Wenn deine Familie dir den Rücken kehrt, dann musst du dir die Freunde suchen, wo du kannst«, erwiderte Harry. »Nicht wahr, Eddie? Nun, wie sieht's aus, kein Willkommen daheim für mich, Onkel Jack? Nach all den langen Jahren, die ich von zu Hause fort war und in denen ich der Familie treu und gut in fremden Breiten gedient habe, ohne je auch nur ein Dankeschön dafür zu hören?«
»Du hättest jederzeit heimkommen können«, erwiderte der Waffenmeister. »Die Matriarchin wäre vielleicht nicht allzu glücklich darüber gewesen, aber dein Vater und ich hätten dir zur Seite gestanden. Das haben wir dir gesagt; das haben wir dir beide oft genug gesagt. Aber du hattest ja immer irgendeine Ausrede!«
»Jetzt bin ich da, Onkel Jack. Wegen meines Vaters.«
»Du hast es also gehört«, stellte ich fest.
»Natürlich habe ich es gehört. Die ganze Welt weiß, dass du meinen Vater ermordet hast, lieber Cousin Eddie. Und nun bin ich hier, stellvertretend für alle alten Freunde, Verbündeten, Geliebten und Feinde des Grauen Fuchses, die alle äußerst verärgert darüber sind, dass der legendäre James Drood tot ist. Wir wollen wissen warum. Wir verlangen Antworten.«
»Es war ein Zweikampf«, sagte ich schlicht. »Rüstung gegen Rüstung. Er kämpfte gut und starb ehrenvoll.«
Ich warf nicht einmal einen Blick in Mollys Richtung. Ihre Rolle bei James' Tod ging niemanden außer sie selbst etwas an.
Harry sah mich mit leicht schräg gestelltem Kopf an. »Das ist alles? Das ist alles, was du zu sagen hast?«
»Das ist alles, was es zu sagen gibt«, entgegnete ich. »Ich führte Krieg gegen meine Familie, und er kam einfach in den Weg.«
»Dann - dann hast du nicht einfach meinen Vater ermordet und allen die Torques weggenommen … damit du die Macht über die Familie übernehmen und sie unbehindert führen konntest?«
»Nein«, antwortete ich ruhig. »So war es nicht.«
»So war es wirklich nicht«, bestätigte der Waffenmeister. »Er sagt die Wahrheit, Harry. Meinst du, ich hätte meinen Bruder inzwischen nicht gerächt, wenn ich dächte, er müsste gerächt werden?«
»Nun«, sagte Harry, »das ist ja äußerst interessant. Ich sehe schon, dass ich weitere Nachforschungen anstellen muss. Wie dem auch sei, jedenfalls bin ich endlich mit meinem guten Freund Roger heimgekommen, um der Familie in der Stunde der Not zu dienen. Sagt mir, wie dankbar ihr alle seid!«
»Für einen erfahrenen Frontagenten mehr haben wir immer Verwendung«, sagte ich. »Aber die Höllenbrut …«
»Bitte, nennt mich Roger!«
»Trau ihm nicht, Eddie!«, warnte Molly, die wieder an meiner Seite war. »Du kannst dich auf nichts verlassen, was er sagt. Die Hölle lügt immer, außer wenn eine Wahrheit einem mehr wehtun kann.«
»Ich sage es noch einmal, für die Begriffsstutzigen in der letzten Reihe«, sagte Harry. »Roger ist auf meiner Seite. Ich verbürge mich für ihn und garantiere für sein Verhalten, solange er hier im Herrenhaus ist. Und er hat auch das Recht, hier zu sein. Er gehört zur Familie, genau wie ich.«
»Was?«, rief der Waffenmeister. »Hast du den Verstand verloren, Harry? Wie kann ein Geschöpf der Hölle zur Familie gehören?«
»Indem wir denselben Vater haben«, erklärte Harry.
Roger lächelte breit. »Mutter war ein Sukkubus, mein Vater der illustre James Drood. Wie wär's mit einer dicken familiären Umarmung?«
Der Waffenmeister schüttelte langsam den Kopf, schwerfällig, als ob man ihn heftig geohrfeigt hätte. Auf einmal sah er älter aus und gebrechlicher. Ich muss sagen, dass es auch mir den Atem verschlug. Ich schaute Molly an, aber sie zuckte bloß die Schulter, um zu zeigen, dass es auch für sie eine Neuigkeit war.
»Das ist richtig«, sagte Harry munter. »Roger ist mein Stiefbruder. Und dein Neffe, Onkel Jack.«
»Der alte Graue Fuchs war sexuell wirklich sehr aktiv«, sagte Molly. »Aber selbst dann - ein Sukkubus? Das ist einfach … geschmacklos.«
»Lustdämonen sind Aristokraten in der Hölle«, erläuterte Roger. »Und gesammelte Seelen sind die Währung.«
»Halt die Klappe!«, sagte der Waffenmeister. »Halt einfach die Klappe!«
»Jawohl, Onkel«, sagte Roger.
»Es ist spaßig, wie Roger und ich uns kennengelernt haben«, erzählte Harry. »Das kam nur, weil wir alle verwandt sind. Vater und ich arbeiteten gemeinsam an einer Mission, wie wir es häufig taten, wenn wir gleichzeitig im selben Teil der Welt landeten. Vater und ich waren in Paris und dort dem Fantom, dem legendären Dieb und Attentäter, auf der Spur. Er führte mich in einen gewissen kleinen, abgelegenen Nachtclub am Westufer, wo man Informationen aller Art erhalten konnte, wenn man sich ein wenig Mühe gab. Ein schmieriges Lokal, das sich das Plus Ca Change nannte … Und dort bin ich Roger begegnet. Wir kamen ins Plaudern, während Vater die benötigten Informationen aus einem Haufen Rocker-Werwölfen herausprügelte. Wir beide kamen fabelhaft miteinander aus - das Fantom haben Vater und ich zwar nie eingeholt, aber Roger und ich blieben miteinander in Verbindung.«
»Dann willkommen zu Hause, Harry«, sagte ich. »Und du auch, Roger. Kommt mit uns ins Herrenhaus, wir werden euch schon unterbringen. Aber wenn einer von euch auch nur einmal außer Kontrolle gerät, dann werde ich ihn niederschlagen und auf seinem Kopf eine Riverdance-Vorführung geben!«
»Das ist bloß raue Liebe«, erklärte Harry Roger, »du wirst dich daran gewöhnen. Das ist eben die Drood-Art. Was macht unser lieber alter Seneschall, Eddie?«
»Schmeißt den Laden immer noch mit eiserner Faust in eisernem Handschuh«, antwortete ich, ohne mich ködern zu lassen. »Kommt mit - und nimm deinen Schwan mit, Harry. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.«