»Schön zu Hause zu sein, Eddie«, sagte Harry. »Kann nicht behaupten, dass ich mich jemals so willkommen gefühlt habe. Ich vermute, wenigstens das haben du und ich gemeinsam: Die Lieblingssöhne unserer Familie waren wir nie.«
Plötzlich ertönten schnaubende, hustende Geräusche, und wir blickten uns beide um. Die Greifen hatten uns endlich aufgespürt und kamen herübergeschlendert, um die Neuankömmlinge mit einem ordentlichen Schnüffeln zu überprüfen. Harry ließ es resigniert über sich ergehen, und dann wandten die Greifen sich Roger zu. Sein Geruch gefiel ihnen überhaupt nicht; mit tiefen, grollenden Stimmen knurrten sie ihn an. Einer schnappte sogar nach ihm und Roger trat ihm so in die Rippen, dass er drei, vier Meter durch die Luft segelte. Mit schnellen Bewegungen stellte ich mich zwischen Roger und die Greifen.
»Tu das nicht!«, sagte ich.
»Sonst?«, sagte er.
Es war eine unverblümte Herausforderung - und eine, der ich begegnen musste, wenn ich irgendeine Autorität im Herrenhaus für mich beanspruchen wollte. Ich sprach innerlich die Worte und rüstete binnen eines Moments hoch, und die silberne fremde Materie floss über mich wie eine zweite Haut. Ich ballte eine silberne Hand zur Faust und hielt sie Roger vors Gesicht. Unter seinen Augen ließ ich dicke, silberne Dornen aus den Knöcheln wachsen. Unmenschlich schnell schoss Roger nach vorn, die Finger wie Klauen, das unglaublich breite Lächeln voller Zähne wie die eines Haifischs. Ich wich nicht von der Stelle und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, hinter dem meine ganze gepanzerte Kraft lag. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen, und die schiere Wucht des Aufpralls ließ seinen Kopf so hart nach hinten fliegen, dass es einem normalen Menschen das Genick gebrochen hätte. Roger taumelte zurück, dann fing er sich rasch wieder. Langsam schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit einer Hand ans Gesicht: Seine Nase war gebrochen, wenngleich kein Blut floss. Roger packte die Nase mit der linken Hand und brachte sie mit einem Ruck, der von einem schmerzhaft klingenden Knacken begleitet wurde, wieder in die richtige Stellung. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen, und ich bin mir sicher, dass es mir nicht allein so ging.
»Angeber!«, sagte Harry nachsichtig zu Roger. »Jetzt benimm dich! Ich habe für dein Verhalten garantiert, schon vergessen? Willst du mich schlecht aussehen lassen?«
»Sicher. Es tut mir leid, Harry.« Roger lächelte mir kurz zu. »Es wird nicht wieder vorkommen. Nicht böse sein, ja?«
Ich rüstete ab und schaute erst ihn an und dann Harry. Mir kam der Gedanke, dass die beiden dieses kleine Schauspiel vielleicht nur inszeniert hatten, um zu sehen, wozu die neue Rüstung in der Lage war. Durchtrieben, hinterlistig und ein kleines bisschen paranoid - schließlich waren sie Droods.
»Lasst uns zurück ins Haus gehen«, sagte der Waffenmeister. »Es wird allmählich kalt hier draußen.«
Kapitel Vier
Söhne und Geliebte
»Es ist schön, dich wieder daheim zu haben, Harry«, sagte der Waffenmeister. »Und deinen … Freund. Kommt mit und ich werde euch irgendwas suchen, wo ihr bleiben könnt. Allerdings weiß ich noch nicht so recht, wo ich euch hinstecken soll; das Herrenhaus ist dieser Tage so überfüllt, dass man sich kaum drehen und wenden kann.«
»Wir könnten sie in die Verliese stecken«, schlug ich vor.
Der Waffenmeister warf mir einen kalten Blick zu. »Du weißt sehr wohl, dass wir keine Verliese mehr haben, Eddie. Sie wurden schon vor langer Zeit zu Billardzimmern umfunktioniert.«
»Ihr habt Billardtische hier?«, fragte Molly, und ihre Miene erhellte sich.
»Aber ja doch!«, bestätigte ich. »Sie sind äußerst beliebt. Man muss sich sogar in die Queues stellen, um hineinzukommen!«
»Noch so ein Witz und ich schlag deine Bälle gegeneinander!«
»Warum kann ich denn nicht Vaters altes Zimmer beziehen?«, wollte Harry wissen. »Die Matriarchin ist doch noch nicht dazu gekommen, es neu zuzuteilen, oder? Dachte ich's mir; die liebe Großmutter war schon immer sehr sentimental, wenn ihr Sohn betroffen war. Und wer hätte ein größeres Anrecht auf das Zimmer des Grauen Fuchses als sein einziger legitimer Sohn?«
»Tja … ich schätze, das stimmt«, räumte der Waffenmeister ein. »Ja, James wäre damit einverstanden. Kommt mit mir mit, Harry. Und Roger, und ich werde euch unterbringen.«
»Wir sehen uns später, Cousin Eddie«, verabschiedete sich Harry.
»Ja«, antwortete ich, »das werden wir.«
Der Waffenmeister führte die beiden über den Rasen in Richtung Herrenhaus fort. Molly und ich sahen zu, wie sie gingen, während die Greifen, die sich zurückgezogen hatten, wieder zu uns gewandert kamen, sich neben uns hockten und unglücklich schnaubten und knurrten. Ich tätschelte ein paar Köpfe, zupfte an ein paar Ohren, und einigermaßen zufrieden zogen sie wieder ab. Es beunruhigte mich, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, Harrys und Rogers Eintreffen vorherzusagen. Das warf die Frage auf, was die Höllenbrut sonst noch alles vor uns verbergen konnte.
»Und dabei fing der Tag heute so gut an!«, sagte ich schließlich. »Jetzt ist Harry wieder da, der es kaum erwarten kann, mir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Und als ob das nicht reichte, hat er noch ein Dämonenhalbblut mitgebracht. Ich meine, ich bin ja nicht voreingenommen, aber - verdammt, das ist ein Wesen aus der Hölle!« Ich schaute Molly an. »Bist du wirklich mit ihm ausgegangen?«
»Noch ein Wort darüber von dir, Eddie«, erwiderte sie frostig, »und du wirst mich nie wieder nackt sehen!«
Wir gingen zu meinem Zimmer ins Herrenhaus zurück. Ich verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Auszeit. Als ich entschied, wieder ins Herrenhaus einzuziehen, um die Entwicklung der Dinge richtig im Auge behalten zu können, musste ich mich auch entscheiden, wo ich bleiben wollte. Mein altes Zimmer war längst fort, an irgendjemanden in der Familie vergeben, als ich weggegangen war, um ein Frontagent zu sein. (Und unterwegs die ganze Zeit Frei! Endlich Frei! geschrien hatte.) Aber es war ja auch nicht so, als ob ich besonders an der winzigen Dachkammer gehangen hätte: Zu heiß im Sommer, zu kalt im Winter und jedes Mal, wenn nachts der Wind ging, musste ich aufstehen und ein Taschentuch in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen quetschen, um es am Klappern zu hindern. (Die Familie hat noch nie etwas von Zentralheizung gehalten - verweichlicht einen nur.)
Da ich jetzt die Familie führte, hätte ich mir jedes Zimmer nehmen können, das mir zusagte. Ich hätte die Matriarchin aus ihrer Sondersuite werfen können, und keiner hätte mich davon abgehalten. Aber das brachte ich nicht übers Herz; es wäre grausam gewesen … Alistair gegenüber. Du großer Softie, sagte Molly später, als ich es ihr erzählte. Aber damit lag sie nur zum Teil richtig, denn schon da hatte ich gewusst, dass ich mir Martha Drood nicht zum Feind machen wollte, weil ich ihre Hilfe vielleicht noch bräuchte.
Am Ende entschied ich mich einfach für eins der besser gelegenen Zimmer im Westflügel und schmiss den armen Kerl raus, der dort wohnte. Der seinerseits suchte sich einen in der Nahrungskette tiefer Stehenden aus, zwang diesen zur Räumung und zog in dessen Zimmer ein. Und so ging es weiter, einige Tage lang, bis man sich in den Korridoren nicht mehr bewegen konnte, weil sie voller Leute waren, die ihre Siebensachen von einem Zimmer zum andern schleppten. Vermutlich landete das arme Schwein am Boden der Pyramide wieder im Gemeinschaftsschlafsaal bei den Kindern.
(Im Herrenhaus gibt es keine Gästezimmer. Nur Familie kommt in den Genuss, im Herrenhaus zu wohnen.)
Dennoch war Molly nicht sonderlich beeindruckt, als sie sah, wo sie mit mir wohnen würde. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass Mitglieder der mächtigsten Familie der Welt nur ein Zimmer bekamen, um darin zu leben. Aber so was passiert halt, wenn die Familie schneller wächst, als wir neue Flügel anbauen können. Noch eine oder zwei Generationen, und wir werden uns ein neues Zuhause suchen oder bauen müssen, aber darüber war noch niemand bereit zu sprechen.