»Hast du James' Frau, Melanie Blaze, irgendwann einmal kennengelernt?«
Um den Mund des Seneschalls zuckte kurz etwas, das man beinahe für ein Lächeln hätte halten können. »Ich hatte die Ehre, dieser Dame bei ein paar Gelegenheiten zu begegnen. Eine überaus bemerkenswerte Persönlichkeit.«
Ich wartete, aber das war alles, was er zu sagen hatte. Ich nickte dem Seneschall zu, und er drehte sich um und ging energisch weg. Achselzuckend machte ich mich auf den Weg durch die gewundenen Korridore des Westflügels zum ehemaligen Zimmer von Onkel James. Als ich jünger war, hatte ich viel Zeit dort verbracht, und seine Gesellschaft genossen, wenn er sich zwischen zwei Aufträgen zu Hause ausruhte. In vielerlei Hinsicht war er der Vater gewesen, den ich nie gehabt hatte. Ich war wie ein Sohn für ihn, aber weshalb hatte er dann nie über seinen richtigen Sohn, Harry, mit mir gesprochen?
Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht daran dachte, anzuklopfen, sondern einfach die Tür öffnete und hereinplatzte, wie ich es immer gemacht hatte, als es noch Onkel James' Zimmer gewesen war. Und dann blieb ich wie vom Blitz getroffen stehen, als ich Harry Drood und Roger Morgenstern sah. Sie lagen sich in den Armen. Sie küssten sich. Sofort lösten sie sich voneinander und starrten mich, Schulter an Schulter, unfreundlich an. Ohne Hast drehte ich mich um und schloss sorgfältig die Tür.
»Ihr solltet euch wirklich angewöhnen, hier eure Tür abzusperren«, sagte ich.
»Du hast es gesehen!«, sagte Harry.
»Ja«, antwortete ich, »ich habe es gesehen.«
»Wirst du es allen erzählen?«
»Wieso sollte ich?«, fragte ich. »Das geht niemanden außer euch was an.«
»Wenn du die Matriarchin informieren würdest«, sagte Harry langsam, »und die Familie … Du weißt, dass sie mich nie als ihren Anführer akzeptieren würden. In manchen Dingen ist die Familie immer noch sehr altmodisch.«
»Das ist ihr Problem«, meinte ich. »Ich schere mich einen Dreck darum. Ist das der Grund, weshalb du nie nach Hause gekommen bist?«
Harry und Roger sahen einander an und entspannten sich ein wenig. Harry nahm Rogers Hand und drückte sie beruhigend.
»Das ist der Grund, weshalb mein Vater nie mit dir über mich gesprochen hat«, erklärte Harry. »Allerdings hat er oft mit mir über dich gesprochen. Er hatte großes Vertrauen in dich, Eddie. Er sagte, du habest das Zeug dazu, ein ebenso großer Frontagent wie er zu werden. Von mir hat er das nie gesagt, obwohl ich mir solche Mühe gab, ihn zu beeindrucken. Er war alles, was ich immer sein wollte. Aber er ist nie mit der Tatsache klargekommen, dass sein einziger legitimer Sohn schwul ist. Es bedeutete ihm so viel, verstehst du, seine Linie innerhalb der Familie fortzuführen. Und dafür brauchte er ein legitimes Kind. Die Droods haben immer großen Wert auf Blutlinien gelegt. Die Matriarchin hat ihm schon die Hölle heißgemacht, weil er meine Mutter geheiratet hat; du kannst dir vorstellen, was sie gesagt hätte, wenn sie das mit mir jemals herausgefunden hätte.
Fairerweise muss man sagen, dass er mich hätte verstoßen können, es aber nicht tat. Es bedeutete jedoch, dass wir uns nie so nahestanden, wie es andernfalls vielleicht gekommen wäre. Und es bedeutete, dass er mir nie erlauben konnte, nach Hause zu kommen. Niemand in der Familie durfte jemals erfahren, dass der berühmte Casanova James Drood einen warmen Bruder gezeugt hatte. Er hatte einen Ruf, an den er denken musste.«
»Er hat dich protegiert«, sagte ich.
»Ja«, stimmte Harry mir zu. »Aber er hat mich nie akzeptiert.«
»Hör zu«, sagte ich, »es ist mir scheißegal, ob du schwul bist oder nicht. Aber ich muss dich das fragen: Wie kann Roger dein … Lebensgefährte sein, wo er gleichzeitig dein Halbbruder ist?«
Harry grinste schief. »Wenn es mich nicht stört, dass er ein Höllengezücht ist, wieso sollte mich dann sonst was stören? Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt sind, von dem Moment an, als wir uns in diesem furchtbaren kleinen Nachtclub in Paris begegneten.«
»Selbst Höllengezüchte haben Herzen«, sagte Roger.
»Du stinkst immer noch nach dem Höllenschlund«, sagte ich unverblümt. »Er ist ein Dämon, Harry. Du kannst weder ihm trauen noch irgendeinem seiner Worte. Dämonen lieben niemanden. Sie können nicht.«
»Ich bin nur zur Hälfte Dämon«, wandte Roger ein. »Zur Hälfte bin ich auch ein Mensch, und das kann manchmal ausgesprochen lästig sein. Ich verfüge über die ganze normale Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen, auch wenn ich vorher noch nie zugelassen habe, dass sie mir in die Quere kommen. Ich war damals mit Absicht in diesem Nachtclub; war geschickt worden, um Harry zu verführen und an James heranzukommen und über ihn schließlich an die Droods. Aber stattdessen sahen wir uns an und es war um mich geschehen. Ich war verliebt, sehr zu meiner Bestürzung. Wir verknallten uns auf der Stelle ineinander und waren seitdem nie mehr getrennt.«
»Beklagst du dich etwa darüber?«, fragte Harry liebevoll.
»Nein«, erwiderte Roger, »niemals! Aber es bedeutet eben, dass ich nie mehr nach Hause kann. Sie würden es nie verstehen.«
»Ich kenne das Gefühl«, tröstete Harry ihn und drückte seine Hand.
»Du kannst ihm nicht vertrauen, Harry«, wiederholte ich und gab mir alle Mühe, zu ihm durchzudringen. »Er ist eine Höllenbrut! Sie lügen wie sie atmen; es ist für sie völlig natürlich!«
»Ich vertraue niemandem«, sagte Harry mit ausdrucksloser Stimme. »Nicht dieser Familie und am allerwenigsten dem Mann, der meinen Vater ermordet hat.«
»Es war kein Mord!«, sagte ich. »Es war ein fairer Kampf. Keiner von uns wollte ihn, aber …«
»Jaja«, sagte Harry, »letzten Endes läuft es immer auf die Familie hinaus, nicht wahr? Die Familie und die schrecklichen Dinge, die wir wegen ihr tun. Sag mir wenigstens so vieclass="underline" Sag mir, dass mein Vater gut gestorben ist!«
»Natürlich ist er das«, antwortete ich. »Er kämpfte bis zum letzten Atemzug.«
Harry sah mich nachdenklich an, den Kopf leicht schräg gelegt. »Da ist etwas, was du mir nicht erzählst, Cousin Eddie.«
»Es gibt viel, was ich dir nicht erzähle«, erwiderte ich ungezwungen. »Ich behalte meine Geheimnisse für mich, und das solltest du auch. Ich werde der Familie nicht verraten, dass du schwul bist.«
»Wie ausgesprochen edelmütig von dir!«, warf Roger ein.
»Aber je länger ihr beide dableibt, zusammen, desto eher wird jemand zwei und zwei zusammenzählen. Und Händchenhalten sagt natürlich alles.«
Harry war einen flüchtigen Blick auf die Hand, die die von Roger hielt, ließ aber nicht los. »Danke für den freundlichen Rat, Cousin Eddie. Und für deine Verschwiegenheit mit Rücksicht auf uns. Ich bin sicher, das ist mehr, als ich von Rechts wegen von dir erwarten dürfte. Aber mach nicht den Fehler zu denken, dass wir jemals Freunde werden!«
»Ich werde mich mit Verbündeten zufriedengeben«, sagte ich. »Wir werden einen Weg finden müssen, in den schlechten Zeiten, die uns bevorstehen, zusammenzuarbeiten. Zum Wohl der Familie - und der Welt.«
»Oh, aber sicher«, meinte Harry. »Alles für die Familie.«
Kapitel Fünf
Kommen zwei junge Seehunde in einen Klub
Ein Besuch beim Waffenmeister der Familie ist immer eine interessante Erfahrung - und oft eine ausgezeichnete Gelegenheit zu testen, wie gut die Reflexe sind. Immer geht irgendetwas Lautes und Lärmendes vor sich, normalerweise explosiver Natur, und wie fruchtbar der Besuch für einen selbst ist, kann von der Fähigkeit abhängen, sich blitzschnell zu ducken und in Deckung zu werfen. Als ich also der Waffenkammer - die tief ins Grundgestein unter dem Herrenhaus eingelassen ist, damit wenigstens der Rest der Familie vor den schrecklichen Folgen geschützt ist, wenn, was unausweichlich ist, mal etwas richtig danebengeht - einen Besuch abstattete, war meine erste überraschte Feststellung, wie ruhig und friedlich alles zu sein schien. Die Waffenkammer ist im Wesentlichen eine lange Reihe miteinander verbundener Steingewölbe, zum Bersten angefüllt mit Apparaturen, Werktischen und Versuchsbereichen. Und einer eigenen angrenzenden Krankenstube, nur für alle Fälle.