»Ich will dich als Tutorin für die Drood-Familie anheuern«, sagte ich. »Ich will, dass du ihnen beibringst, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Und von Dingen erzählst, von denen sie nicht mal wissen, dass sie sie nicht kennen. Du müsstest im Herrenhaus leben und deine … Bedürfnisse etwas einschränken, aber die Bezahlung wäre mehr als genug, um dir ein völlig neues Leben zu kaufen, wenn du uns mal verlassen hast.«
»Siehst du«, sagte Molly zu U-Bahn Ute und strahlte. »Dein Glück hat sich wieder gewendet.«
»Nein«, sagte Ute. Sie wandte den Blick von uns ab und schien in sich zusammenzusinken. »Sieh mich an, ich bin zu sowas in meinem Zustand nicht zu gebrauchen.«
»Im Herrenhaus sieht's besser aus«, sagte ich. »Wir werden dich schon wieder auf Vordermann bringen, egal, was man dir angetan hat. Wir werden einen ganz neuen Menschen aus dir machen.«
»Genau davor habe ich Angst«, sagte U-Bahn Ute. »Ich habe Geschichten über die Leute gehört, die man zum Drood-Familienanwesen gebracht hat.«
»Von denen sind aber nur ein paar wahr«, widersprach ich.
»Vertrau mir«, sagte Molly. »Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas Schlimmes passiert.«
»Aber was kann ich den hochwohlgeborenen und mächtigen Droods denn schon bieten?«, fragte Ute. »Was kann ich ihnen beibringen, das sie nicht schon wissen?«
»Überlebensstrategien«, sagte ich. »Wie du überlebst, wenn du alles verloren hast, auf dass du dich je verlassen hast.«
U-Bahn Ute sah erst zu mir hin, dann zu Molly. Ich gab mein Bestes, um aufmunternd zu lächeln.
»Eddie hat im Herrenhaus derzeit das Sagen«, erläuterte Molly. »Die Dinge liegen also jetzt anders.«
»Ich muss meiner Familie einfach die Augen für ein Leben öffnen, von dem sie nicht einmal wissen, dass es existiert«, fügte ich hinzu. »Komm und spiel die Tutorin. Teil deine Erfahrung mit uns. Hilf mit, den Blick der Droods auf die Welt zu formen.«
Ute lächelte kurz, aber sie schien noch nicht überzeugt.
»Du und deine Familie haben mich und meinesgleichen für Jahrhunderte gejagt. Ihr habt uns wie Ungeziefer verfolgt, nur weil wir die Sünde begangen haben, zu sein, was wir sind. Du hast das Blut meiner Familie und meiner Freunde an den Händen deiner Rüstung, Drood. Und du willst, dass ich für dich arbeite? So schlecht geht es mir dann doch noch nicht.«
»Oh doch, das tut es«, sagte Molly freundlich. »Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass du im Herrenhaus wirklich sicher bist. Ich weiß nicht, ob du der ganzen Familie trauen kannst, aber Eddie kannst du trauen. Er hat seine Familie am Kragen gepackt und die Art und Weise, wie sie die Dinge angehen, kräftig durchgeschüttelt. Er will ändern, wie sie denken und die Welt sehen und das ist der Grund, warum ich dich als aushäusige Tutorin vorgeschlagen habe. Du wirst auch nicht allein da sein. Wir werden uns als Nächstes Mr. Stich suchen.«
»Na prima«, sagte Ute. »Soll mich das beruhigen? Auf der anderen Seite - es ist überall besser als hier. Ihr habt ja keine Ahnung, wie sehr man sanitäre Anlagen vermissen kann, wenn man keine mehr hat. Und ich schulde dir was, Eddie, weil du mir geholfen hast, mich von Truman zu befreien. Weißt du, dass er sich an einem neuen Ort neu organisiert hat?«
»Nichts Genaues«, sagte ich. »Weißt du, wo wir ihn finden können?«
»Ich habe nur Gerüchte gehört, das ist alles. Er soll eine neue unterirdische Basis haben, außerhalb von London, an einem Ort mit uralter Macht. Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit hattest, Drood.«
»Ich werde es das nächste Mal noch ernsthafter versuchen«, sagte ich. »Bist du so weit?«
»Verdammt, ja. Ist ja nicht grade so, als würde mich hier irgendwas halten, oder? Oder als ob es etwas gäbe, was ich mitnehmen wollte.«
Ich tat das Übliche mit Merlins Spiegel und schubste sie durch die Öffnung in die Waffenmeisterei, aus der Onkel Jack mich finster anstarrte. »Eddie, verdammt, jetzt warte doch mal eine Minute!«
»Tut mir leid, Onkel Jack, keine Zeit! Bis später!«
Dann ließ ich den Spiegel wieder zusammenschnurren, damit er mir nicht all die Gründe aufzählen konnte, warum ich ihn nicht laufend mit meinen neuen Tutoren belästigen konnte. Molly sah mich an. »Was glaubst du, wollte er von dir?«
»Nichts, was nicht warten könnte, bis wir zurück sind«, sagte ich leichthin. »Und jetzt zu Mr. Stich.«
»Ich wünschte, du würdest aufhören, solche Grimassen zu schneiden, Eddie, ich bin sicher, das ist nicht gut für dich.«
»Ich gehe auf deinen Vorschlag hin ein höllisches Risiko ein«, sagte ich. »Wenn er erst einmal im Herrenhaus ist und etwas schiefgeht …«
»Dann ist alles meine Schuld, ja, das haben wir ja schon festgelegt. Sieh mal, Eddie, ich weiß, wie gefährlich er ist. Ich weiß das besser als jeder andere. Aber ich werde da sein und ein sehr strenges Auge auf ihn haben. Und … na ja, was kann er in einem Haus voller Droods denn schon anstellen? Nicht mal seine alte Magie kann einer Rüstung etwas entgegensetzen. Du musst mir da einfach vertrauen, Eddie.«
»Dir vertraue ich«, erwiderte ich. »Ihm aber nicht. Aber wenn er dir so wichtig ist …«
»Das ist er«, sagte Molly. »Ich muss daran glauben, dass Leute sich ändern können. Selbst die Schlimmsten.«
»In Ordnung. Wo glaubst du also, dass wir ihn zuerst suchen sollten, den berüchtigsten ungefassten Serienmörder von London?«
»Ich habe schon darüber nachgedacht. Und ich glaube, wir sollten beim Orden der Jenseitigen anfangen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Meinst du diese Kaschemme unten am Grafton Way, wo besessene Leute herumsitzen und irgendwelches Geschwafel von sich geben? Warum sollte Mr. Stich sich denn ausgerechnet da rumtreiben?«
»Zuhören«, antwortete Molly. »Er glaubt, dass er etwas lernt, wenn er lange genug zuhört, irgendein altes Geheimnis oder ein altes Wissen, um die Bedingungen seiner Unsterblichkeit zu ändern.«
»Damit er sich heilen kann?«
»Oder damit er noch besser töten kann.«
»Damit erhöhst du mein Vertrauen in ihn nicht gerade, Molly.«
»Na, komm schon.«
»Bevor oder nachdem wir noch etwas Vernunft in unsere Schädel geprügelt haben?«
»Ach, sei still. Sei ein guter Junge und ich werde dich danach zu einem schönen Abendessen einladen.«
»Ich bin zu leicht zu bestechen.«
Merlins Spiegel brachte uns direkt zum Grafton Way, in eins der älteren, eher traditionelleren Viertel des West Ends. Hier können Sie alles finden: Botschaften von kleineren Staaten, Bürohäuser, Literatur-Agenten - und der Orden der Jenseitigen befindet sich mitten in einem gewöhnlichen, unauffälligen terrassenförmigen Bürohaus. Nichts weist auf ihn hin als eine einfache Messingplakette am Eingang, die den Namen preisgibt und die strenge Ermahnung: »Keine Wiedergänger, Wiedergeburten oder Zwangsvollstrecker«. Ich drückte die Klingel und als mich eine kalte Stimme über das Interkom nach meinem Namen und meinem Begehr fragte, sagte ich nur »Shaman Bond«. Nach einer Pause ging die Tür mit einem Klicken auf. Meine Tarnidentität hat einen langen und sorgfältig gepflegten Ruf, überall mal aufzutauchen und im Prinzip harmlos zu sein. Einfach nur ein weiteres Gesicht, mit einem regen Interesse an allem, was illegal, unmoralisch oder unnatürlich war. Shaman Bond war ein Glücksritter, ein kleiner Gauner und überhaupt nicht wie Eddie Drood. Das mochte ich am meisten an ihm.
Die Rezeption erwies sich als bewusst leer und anonym, ohne Hinweis auf das, was einen erwartete. Leere Wände, ein leerer Boden und eine sehr professionelle Empfangsdame hinter einem sehr einfachen Empfangstresen. Die Empfangsdame schien hinreichend austauschbar, mit dem üblichen leeren, aber attraktiven Gesicht, Augen aus purem Eis und einem Lächeln, das überhaupt nichts bedeutete. Die Art, die mit ihrem Kalender lebte und starb und für niemanden eine Ausnahme machte, selbst wenn man das massiv gesprayte Haar anzündete. Ich wusste von Anfang an, dass wir nicht miteinander auskommen würden. Molly und ich schlenderten zu dem Tresen hinüber, als wollten wir mal sehen, warum er wohl dastand, und stellten uns direkt vor die Rezeptionistin. Sie ignorierte uns natürlich und konzentrierte sich voll auf die Papiere, die vor ihr ausgebreitet waren, um uns zu zeigen, wo wir hingehörten. Also lehnte ich mich nach vorn, raffte all die Papiere zusammen und warf sie in die Luft. Dann lächelte ich ihr ins entsetzte Gesicht, als das Papier um uns herum zu Boden flatterte.