»Wag es nicht, uns hier einfach stehenzulassen«, sagte der Seneschall.
»Du kannst mich mal, Cyril«, sagte ich.
Und ich ging einfach aus dem Sanktum hinaus, ohne mich umzudrehen, selbst als der Waffenmeister und Penny meinen Namen riefen. Ich war so wütend, dass meine Hände sich wieder zu Fäusten geballt hatten, so fest, dass sie mir tatsächlich wehtaten. Mein Herz pochte wie ein Vorschlaghammer und ich konnte spüren, dass ich vor Zorn rot im Gesicht war. Ich musste raus. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich dazu brachten, das Falsche zu sagen, das Falsche zu entscheiden. Es ergab keinen Sinn zu bleiben; die Richter hatten ihr Urteil gefällt. Und ohne Molly, die mir zur Seite stand, und mit einem schwankenden Waffenmeister wäre ich überstimmt oder überschrien worden, egal, was ich sagte. Von meinem eigenen Inneren Zirkel! Ich konnte nicht fassen, dass sie Harry eingeladen hatten, ohne das zunächst mit mir abzusprechen.
Ich schritt durch die Korridore und Verbindungszimmer des Herrenhauses, schimpfte vor mich hin und warf wütende Blicke auf jedes Familienmitglied, das mir begegnete. Die meisten hatten Verstand genug, angemessenen Abstand zu halten. Keiner von ihnen sprach mit mir, sie sahen mir nur schweigend hinterher, während ich vorbeiging. Das passte mir gut. Nur ein dummer Kommentar und ich hätte ihnen eine reingehauen.
Dennoch, so wütend ich auch war, ein Teil von mir stand im Hintergrund, schüttelte den Kopf und sagte immer wieder: Das bist nicht du. Du hast immer daran geglaubt, nicht wütend zu werden, sondern klaren Kopf zu bewahren. Als die Matriarchin mich zum Vogelfreien erklärte und mich zum Tode verurteilt hatte, war ich nicht ausgerastet; nein, ich bin damals sofort dazu übergegangen, zu planen, wie ich sie überführen könnte. Aber damals hatte ich gewusst, dass ich unschuldig war, ich hatte nichts Falsches getan. Das hatte mir Mut gemacht, trotz all der Hindernisse, die man mir in den Weg gelegt hatte. Das hier war anders. Nichts außer der Wut hatte Raum in mir und der größte Teil davon richtete sich gegen mich selbst.
Weil ich es vermasselt hatte. Ich hatte meine Leute umgebracht. Meine Familie. Alles andere war unwichtig.
Als ich am Haupteingang angekommen war, war die Wut einem dumpfen Druck gewichen und ich konnte klarer denken. Oder zumindest so klar, dass ich mir mehr Sorgen um Molly machte, als um mich selbst. Ich hatte sie nicht ernst genug genommen, als sie gesagt hatte, sie könne im Herrenhaus nicht wohnen, dass sie unter lebendigen Dingen leben müsse, in der Wildnis. Ich wusste, dass sie sich nur schwer eingewöhnte, aber ich hatte gedacht, dass sie es schaffen würde. Und jetzt musste ich mich fragen, ob ihr das je gelingen würde. Ob sie es je könnte. Sie war immerhin eine Frau, die sonst in ihrem eigenen privaten Wald lebte, während ich hier bleiben musste, im Herrenhaus, oder riskierte, die Kontrolle über meine Familie zu verlieren.
Martha hatte mir schon ins Gesicht gesagt, dass sie nur darauf warte, dass ich alles so durcheinanderbrachte, dass sie wieder die Macht ergreifen und das Matriarchat erneut errichten konnte. Und was dann? Würde sie die alten Sitten wieder etablieren? Goldene Rüstungen statt silberner, für die mit Kinderopfern gezahlt wurde? Zurück zu der Zeit, in der die Familie die Welt regierte, statt sie zu schützen? Nein. Ich konnte das nicht zulassen. Meine Pflicht der Familie gegenüber wog schwerer als die Pflicht mir selbst gegenüber. Das war immer so gewesen. Ich konnte meiner Familie nicht den Rücken zukehren, nicht einmal für Molly. Es ist immer die Familie, die zählt, ob wir das nun mögen oder nicht.
Aber so konnte ich Molly verlieren. Die einzige Frau, die ich je geliebt hatte.
Ich kam am Haupteingang an, schritt durch die Tür und sah die lange, kiesbestreute Auffahrt entlang, als sich auf einmal aus dem Nichts eine Ambulanz materialisierte. Das sorgte definitiv für meine Aufmerksamkeit, denn eigentlich hätte sich auf unserem Grund und Boden nichts materialisieren dürfen, es sei denn, wir hätten es im Voraus erlaubt. Was wir meist nicht tun. Die Ambulanz kam röhrend die Auffahrt hinauf und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor mir und spritzte Kies auf meine Schienbeine, auf der Seite stand Dr. Syn's nächtlicher Fluglieferservice. Die Fahrertür öffnete sich und der Fahrer stieg aus. Ein fröhlicher Mensch mit einer traditionell weißen und gestärkten Uniform. Er schlenderte herüber zu mir und drückte mir ein Clipboard und einen Stift in die Hand. Dann salutierte er kurz.
»Bitte unterschreibt hier, edler Junker. Ein Verrückter frei Haus und nein, ich beantworte keine Fragen. Ich liefere Leute einfach ab und verschwinde wieder, bevor es hässlich wird. Bitte, hier auf der gepunkteten Linie unterschreiben. Damit quittieren Sie die Lieferung eines William Dominic Drood, auch bekannt als Seltsamer John. Und machen Sie voran, Junker, ich habe auch noch diesen amerikanischen Gentleman und sein Riesenkaninchen abzuliefern.«
Ich unterschrieb mit Harrys Namen und gab das Clipboard zurück. Ich war immer schon von der vorsichtigen Sorte gewesen. Der Fahrer salutierte noch einmal kurz und ging hinten an die Ambulanz. Dort schloss er ein sehr großes Vorhängeschloss auf und zog die Tür mit einem herzhaften: »Raus mit dir, mein Lieblingsverrückter, du bist zu Hause!« auf. William Drood trat heraus und blinzelte im hellen Sonnenschein, während der Fahrer ihn fest am Arm packte und ihn zu mir brachte.
»Bitte sehr, Junker. Ein Bekloppter, wie bestellt. Stundenlanger Spaß für die ganze Familie. Versuchen Sie, ihn nicht zu verlieren. Sie würden nicht glauben, was für einen Papierkram ich hätte, wenn ich ihn wieder einfangen müsste. Ihnen einen schönen Tag noch! Ich hab Sie schon vergessen!«
Noch ein Salut und er war wieder in seiner Fahrerkabine. Die Ambulanz brauste mit quietschenden Reifen den Kiesweg hinunter und verschwand in größtem Lärm. Auf einmal schien der Tag wunderbar still.
»Eine beunruhigend fröhliche Person«, sagte William. »Ich darf nicht vergessen, ihm einen Dankesbrief zu schicken. Mit einer Briefbombe.«
»Willkommen zurück, William«, sagte ich. »Willkommen zu Hause.«
Er nickte vage und sah sich um. Er schien nicht besonders glücklich, wieder hier zu sein. Er sah besser aus als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, allein in seiner Zelle im Sanatorium »Fröhliches Delirium«. Sie hatten ihn in einen guten Anzug gesteckt, bevor sie ihn nach Hause geschickt hatten, auch wenn er aussah, als fühle er sich nicht sehr wohl darin. Genaugenommen sah er allgemein so aus, als fühle er sich unbehaglich. Sein Gesicht konnte sich nicht so recht für einen Ausdruck entscheiden, und seine Augen sahen wie immer gehetzt um sich, so als sehe er immer noch seltsame Welten und alternative Realitäten in den Augenwinkeln. Und wenn man bedachte, wer er war … Ich sagte wieder seinen Namen und sein starrer Blick wandte sich langsam wieder mir zu. Ich streckte meine Hand aus und nach einer Pause schüttelte er sie ernst.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich.
»Natürlich erinnere ich mich an dich, Edwin. Ich bin nicht völlig gaga. Du hast mich an diesem … Ort besucht. Du hattest eine Botschaft für mich, du meintest, es sei wieder sicher, heimzukommen. Also bin ich hier. Ich hoffe, du hast recht, Edwin.«
»Es ist gut, dich wieder hier zu haben, wo du hingehörst«, sagte ich.
»Ist es das?«, fragte er geistesabwesend und sah auf das Herrenhaus hinter mir, als sehe er es zum ersten Mal. »Es fühlt sich nicht wie ein Zuhause an. Aber das tat es nicht einmal, als ich ging. Ich habe etwas herausgefunden, weißt du, und danach schien nichts mehr beim Alten zu sein. Ich kann nicht einmal mehr sagen, dass ich mich wie William Dominic Drood fühlte. Ich denke, ich war als Seltsamer John glücklicher. Ich denke, vielleicht … habe ich William hier gelassen, als ich wegging. Vielleicht kommt er ja ebenfalls wieder, jetzt, wo ich wieder hier bin. Wenn es sicher ist. Ich habe etwas im Sanktum gesehen, weißt du …«