»Es ist in Ordnung, William«, sagte ich schnell. »Ich weiß, was du gesehen hast, was du herausgefunden hast. Jeder weiß das jetzt. Das Herz ist tot und all seine Boshaftigkeit mit ihm. Wir haben jetzt eine neue Rüstung, aus einer neuen Quelle. Da ist nichts mehr, wovor man Angst haben muss.«
Er sah mich traurig an. »Das wäre schön. Aber wir sind Droods. Also gibt es immer etwas, wovor man Angst haben muss. Das kommt davon. Ich hatte Angst vor so vielen Dingen, so lange schon.«
Ich wechselte vorsichtig das Thema. »Gibt es jemand besonderen von der Familie, den du sehen willst? Jemand, den du vermisst hast?«
»Nein«, sagte William nach einem Moment. »Ich hatte nie eine eigene Familie. Oder alte Freunde … Das scheint alles so lange her zu sein. Ich glaube nicht, dass ich will, dass sie mich so sehen. Ich bin … noch nicht wieder ich selbst. Wer auch immer das sein wird.«
»Ich weiß, was du brauchst«, sagte ich entschieden. »Du warst der beste Bibliothekar, den die Familie je hatte und wir haben eine wundervolle Überraschung für dich. Wir haben die alte Bibliothek wiederentdeckt, nach all den Jahren. Wir brauchen jemanden wie dich, um sie zu ordnen.«
William sah mich scharf an, sein Gesicht wirkte zum ersten Mal wach und interessiert. »Die alte Bibliothek? Aber die ist doch durch ein Feuer zerstört worden, vor Jahrhunderten schon!«
»Nein«, sagte ich grinsend. »Sie wurde nur versteckt und wartete darauf, gefunden zu werden. Und du wirst nicht glauben, was für alte Schätze sich darin finden. Komm mit!«
Ich brachte ihn durch das Herrenhaus und er sah sich staunend wie ein Tourist um, als hätte er es noch nie gesehen. Vielleicht hatte er alles vergessen, bei seinen Bemühungen, alles zu verdrängen, was er im Sanktum gesehen hatte. Er hatte es vergessen müssen, um zu überleben. Er hatte sich selbst in eine Irrenanstalt gebracht, vor der Familie versteckt und verdrängt, was er über sie entdeckt hatte. Er hatte vorgegeben, verrückt zu sein, um hineinzukommen, aber mit den Jahren hatte er es weniger und weniger vorgeben müssen. Er war jetzt schon so lange weg, dass keiner der Leute, denen wir begegneten, ihn erkannte, und er zeigte kein Interesse daran, mit einem von ihnen zu reden. Als ich ihn zur Bibliothek brachte, hellte sich seine Stimmung umgehend auf. Er ging durch die Regale, lächelte, wenn er dieses oder jenes Buch wiedererkannte, und schüttelte den Kopf über den Zustand des Ganzen. Er stand jetzt aufrechter, sein Blick war schärfer und er schritt mit mehr Selbstsicherheit aus. Jetzt, in vertrauter Umgebung, kam mehr und mehr seines eigenen Ichs wieder zu ihm zurück.
Er sah beinahe wieder so aus und hörte sich so an wie der Bibliothekar, den ich aus meiner Kindheit kannte.
Als ich glaubte, dass er fertig wäre, nahm ich ihn mit zu dem Porträt des alten Archivars an der hinteren Wand, öffnete es mit den richtigen Worten und wir gingen durch das Porträt in die alte Bibliothek - das riesige Lager von uraltem Familienwissen und vergessener Weltgeschichte. William nahm einen tiefen Atemzug und starrte mit großen Augen und entzückt wie ein Kind auf die kilometerlangen Regale. Stöße und Berge von Büchern, Manuskripten und Schriftrollen, ja sogar ein paar Steintafeln, erstreckten sich, so weit das Auge sehen konnte, in die Ferne. William lächelte plötzlich und es war, als würde auf einmal sein ganzes Gesicht lebendig. Ich lächelte ebenfalls, froh, endlich etwas richtig gemacht zu haben. Das Herrenhaus fühlte sich vielleicht für ihn nicht an wie ein Zuhause, aber die alte Bibliothek dafür ganz sicher.
»Für den Anfang könntest du vielleicht für mich ein paar Nachforschungen anstellen«, sagte ich leichthin. »Ich brauche alles, was du über die kandarianische Kultur finden kannst und besonders ein paar alte Riten, die Wesen betreffen, die die Eindringlinge genannt werden. Nimm dir Zeit. Heute Abend würde vollkommen reichen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er in der typisch schnoddrigen Art eines Bibliothekars. »Manche Dinge ändern sich nie. Du willst das Unmögliche und das auch noch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Muss ich das alles alleine tun oder habe ich irgendwelche Mitarbeiter?«
»Gerade mal einen«, sagte ich. »Um genau zu sein, der derzeitige Bibliothekar. Rafe? Rafe, wo bist du?«
Ein Kopf poppte aus einem Stapel Bücher weiter hinten heraus, eine Hand winkte fröhlich und ein freundlicher, junger Kerl mit einem breiten, strahlenden Gesicht kam zu uns herübergelaufen. Ich mochte Rafe. Der vorige Bibliothekar hatte seinen Posten abgegeben, als ich die Leitung der Familie übernommen hatte. Er war nicht nur ein Mitglied der Null-Toleranz-Fraktion, sondern gehörte auch zu den Anhängern der Matriarchin, und weigerte sich deshalb, für mich zu arbeiten. Ich war gezwungen gewesen, seinen Assistenten zum Vollbibliothekar zu befördern. Er hatte sich gar nicht so schlecht gemacht. Es half, dass er seinen Job liebte und praktisch in Ekstase verfallen war, als er der alten Bibliothek ansichtig geworden war. Er versuchte derzeit, einen Index zu erstellen, damit wir wenigstens wussten, was es hier alles gab.
»Hi!«, sagte er zu William und schüttelte begeistert dessen Hand. »Ich bin Rafe. Eine Abkürzung von Raphael, was ich nie benutze. Ich bin keine Schildkröte. Sie müssen William sein. Sie sind eine Legende in Bibliothekskreisen! Die, wie man zugeben muss, gar nicht so groß sind. Aber! Hier sind Sie, wieder da und genau rechtzeitig, um mir zu helfen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Keiner hat diesen Ort in den letzten Jahrhunderten genutzt und das sieht man ihm an. Ich habe schon gesagt, dass ich die Hilfe eines Experten brauche, aber es hat mich ja völlig umgeworfen, als Edwin gesagt hat, er könnte Sie kriegen! Und hier sind Sie! Ich freu mich echt darauf, mit Ihnen zu arbeiten!«
»Keine Sorge«, sagte ich zu William. »Er wird sich schon wieder beruhigen, wenn er sich an dich gewöhnt hat. Und das Ritalin in seinem Tee hilft ihm dabei.«
»An die Arbeit«, sagte William.
Und er ging davon, in die Regalreihen hinein und sah sich nicht einmal nach einem von uns um. Rafe nickte mir kurz zu, grinste und hastete hinter seinem neuen Mentor her. Ich grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf, als William Rafe von Bücherstapel zu Bücherstapel schickte, um alte Folianten und heilige Texte hervorzusuchen und hinter ihm herzurufen wie ein Hirte seinem Hütehund.
Mit etwas Glück würde das Ordnen der alten Bibliothek William ein wenig helfen, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen.
Als ich aus dem Portal in die Hauptbibliothek zurückkam, wartete Penny auf mich. Ich drehte mich um, um das Porträt zu schließen und ging dann wortlos an ihr vorbei. Vielleicht ein wenig kindisch, aber ich war wirklich nicht in der Stimmung, herumzudiskutieren. Penny ging einfach neben mir her, kühl und gesammelt wie immer.
»Es ist nicht einfach, dich festzunageln, Eddie. Wenn nicht jemand gesagt hätte, dass er William Drood hier hat herumlaufen sehen, dann hätte ich nie hier nachgesehen. Ist er wirklich all die Jahre im Irrenhaus gewesen? Na, egal, du hattest mit den Tutoren recht, also hast du es hoffentlich mit den Vogelfreien ebenfalls. Bitte, lauf etwas langsamer, Eddie! Wir müssen reden!«
»Nein, müssen wir nicht«, sagte ich und wurde nicht langsamer.
»Doch, das müssen wir! In deiner Abwesenheit hat der Innere Zirkel Harry zu einem Vollmitglied gewählt. Jeder hat zugestimmt. Selbst der Waffenmeister, auch wenn er es sicher nur getan hat, weil Harry James' Sohn ist. Wie auch immer - der Punkt ist, dass der Innere Zirkel einstimmig beschlossen hat, dass dir nicht mehr erlaubt ist, militärische Entscheidungen zu treffen, ohne vorher den Inneren Zirkel zu befragen. Und dass du ohne die Zustimmung des Zirkels nichts Derartiges mehr in die Wege leiten darfst. Weißt du, was das bedeutet? Jetzt mach langsamer, Eddie, ich kriege Seitenstechen! Na, hast du nichts dazu zu sagen?«
»Glaub mir, du willst wirklich nicht hören, was ich dazu gerne sagen würde.«