»Warum stehen wir so früh auf?«, fragte Molly und griff ihren Berg von dampfendem Rührei erneut mit alarmierender Vehemenz an.
»Begräbnisse werden hier immer früh am Morgen abgehalten«, sagte ich. »Das ist Tradition. Vielleicht ist das diesmal sogar gut, wir haben eine Menge zu tun. All die Leute, die ich verloren habe …«
»Fang damit gar nicht erst an«, sagte Molly streng und drohte mir mit ihrer Gabel. »Nichts von dem, was passiert ist, war dein Fehler. Wenn es das wäre, dann würde ich es dir sagen. Laut und heftig und dort, wo mich jeder hören könnte.«
Ich zog das in Erwägung. »Das würdest du wirklich, stimmt's?«
»Also, warum halten sie das Begräbnis so schnell ab? Es ist ja nicht so, als würde jemand abhauen.«
»Wir zögern nicht, wenn es darum geht, jemanden zu begraben«, meinte ich. »Die Familie hat zu viele Feinde, die versuchen könnten, unsere Toten gegen uns zu verwenden.«
Molly kaute auf einem knusprigen Schinkenstück herum, nachdenklich und gründlich. »Wie laufen Begräbnisse bei euch ab?«
»Oh, es wird eine große Zeremonie werden«, sagte ich. »Meine Familie hat eine Zeremonie für praktisch alles. Wir sind ganz groß, was die Tradition angeht. Hindert das Fußvolk daran, selbst zu denken. Und ich werde zum Schluss eine Rede halten müssen. Das wird von mir erwartet.«
»Was wirst du sagen?«, fragte Molly.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich denke, ich könnte mich der Gnade der Familie ausliefern.«
Molly schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht tun.«
Nach dem Frühstück brachte ich Molly in den hinteren Teil des Haupthauses und durch die hohen französischen Fenster, die auf die weiten Rasenflächen zeigten, wo die Beerdigung abgehalten wurde. Die Särge schimmerten hell in der frühen Morgensonne, Reihen und Reihen davon erstreckten sich vor uns. Alle natürlich geschlossen, um die Tatsache zu verschleiern, dass die meisten von ihnen nur Körperteile enthielten und einige sogar gar nichts. Zweihundertundvierzig Holzkisten. Ich wusste nicht, dass wir so viele auf Lager gehabt hatten. Oder vielleicht hatte nur jemand einen Duplizierungszauber angewandt. Zweihundertvierzig Droods weniger, die in der Bresche zwischen der Welt und all dem Bösen darin standen.
Jede Familie verliert Mitglieder. Aber in meiner Familie macht das mehr aus als in den meisten anderen.
Die ganze Familie, oder zumindest schien es so, war zur Beerdigung gekommen. Sie kamen aus dem ganzen Herrenhaus, standen in Gruppen zusammen, die sich aus ihrem Beruf oder ihrem Rang ergaben. Keiner wollte neben Molly und mir stehen, nicht einmal die anderen Mitglieder des Inneren Zirkels. Lange Reihen der Lebenden standen jetzt vor den Reihen der Särge, während versteckte Lautsprecher getragene Musik spielten. Der Waffenmeister stand abseits und fuhrwerkte an einer Bedienungskonsole herum. Er steuerte damit das Energiefeld, dass uns vor feindlichen Attacken und Spionage schützen sollte.
Die Musik endete schließlich mit einer bewegenden Interpretation des Stücks »Ich schwöre Dir, mein Land«, das wir als so etwas wie unsere Hymne betrachteten und dann kam ein Drood-Vikar heraus, um die Zeremonie zu beginnen. Er war ein Christ, mehr nicht. Die Familie hat sich nie um all die verschiedenen Schismen gekümmert, die die protestantische Kirche all die Jahre immer weiter aufgespalten hat. Wir wären vielleicht immer noch katholisch, wenn der Papst uns nicht befohlen hätte, Henry VIII. umzubringen, als der England von Rom getrennt hatte. Der Papst hätte es echt besser wissen müssen. Keiner kommandiert die Droods herum.
Der Vikar führte schnell durch eine verschlankte Zeremonie und hielt nicht einmal für Kirchenlieder oder eine Predigt, dann trat er zurück und nickte dem Waffenmeister zu. Onkel Jack drückte mit der Handfläche einen großen roten Knopf und die zweihundertvierzig Särge verschwanden lautlos. Sie waren weg und hinterließen nur blasse Markierungen auf dem grasigen Untergrund. Molly sah mich fragend an.
»Sie werden direkt ins Zentrum der Sonne teleportiert«, sagte ich. »Sofortige Einäscherung. Asche zu Asche und weniger. Nichts bleibt, um es gegen die Familie zu verwenden. Ich sagte dir ja, dass wir alle verbrannt werden, wir sind da nur etwas dramatischer als alle anderen. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss meine Rede halten. Gut, dass ich wenigstens kein Lampenfieber habe. Sieht so aus, als wäre jeder hier außer der Matriarchin.« Ich runzelte die Stirn. »Sie sollte hier sein. Sie sollte ihre privaten Animositäten nicht mit der Pflicht der Familie mischen. Oh Mann, wünsch mir Glück.«
»Ich werde Zwischenrufe damit ahnden, dass ich die Unterwäsche desjenigen anzünde.«
»Sehr passend«, erwiderte ich.
»Dachte ich mir.«
Ich ging gemessenen Schritts an die Stelle, an der sich die Särge befunden hatten, drehte mich um und sah der Familie ins Gesicht. So viele Droods, alle an einem Ort, sahen mich mit unsicheren Mienen an und erwarteten von mir, Worte zu sagen, die alles wiedergutmachen würden. Wenn ich das gekonnt hätte, hätte ich's getan. Aber wenn du zweifelst, dann sag die Wahrheit. Vielleicht ist sie nicht bequem oder beruhigend, aber wenigstens weiß dann jeder, wo er steht.
Also sagte ich ihnen, was wir in der Nazca-Ebene gefunden hatten. Die Abscheulichen, die mithilfe ihrer Drohnen arbeiteten, die wahnsinnige Struktur, die sie gebaut hatten, und das schreckliche Wesen, dass sie durch das Portal in unsere Realität hatten holen wollen. Ich sagte ihnen, wie tapfer und gut meine Armee dagegen gekämpft hatte, gegen eine unerwartete und überwältigende Überzahl und wie wir am Ende triumphiert hatten. Jedenfalls die, die überlebt hatten.
»Das ist genau die Art von Bedrohung, für die die Familie geschaffen wurde«, sagte ich, und meine Stimme klang klar und deutlich in der stillen Morgenluft. »Um Schamanen zu sein, die den Stamm der Menschen gegen Bedrohungen von außerhalb schützen. Die, die mit mir kamen und so tapfer gefallen sind, haben ihr Leben gegeben, um die Menschheit zu retten. Seid stolz auf sie. Und ja, wir haben einen hohen Preis für unseren Sieg bezahlt. Deshalb dürfen wir nie wieder so unvorbereitet sein. Mein Innerer Zirkel und ich haben entschieden, dass jedes Familienmitglied einen Torques bekommen wird, und das so schnell wie möglich. Wir müssen alle wieder stark werden. Es kommt ein Krieg, nicht nur gegen die Abscheulichen und die Invasoren von außerhalb, sondern gegen alle unsere Feinde, die versuchen, uns voneinander zu trennen und zerstören.«
Ich hatte gehofft, dass ich etwas Jubel oder wenigstens eine Runde Applaus bekommen würde, als ich die Rüstungen für alle ankündigte, aber keiner ließ auch nur einen Laut hören. Und als ich geendet hatte, standen alle nur da und starrten mich mit leerem Gesichtsausdruck an, als wollten sie sagen: War's das schon? Ist das alles? Und dann kam Harry aus der Menge heraus und jeder sah ihn an. Das hätte ich mir denken müssen. Ich hätte wissen müssen, dass er die Gelegenheit nutzen würde, mir noch ein Messer in den Rücken zu rammen.
Ich sah schnell zu Molly hin und schüttelte den Kopf. Ich konnte mir nicht leisten, dass irgendeiner dachte, ich hätte Angst, mir Harry anzuhören.
»Ein Krieg steht uns bevor«, sagte Harry mit lauter und selbstsicherer Stimme. »Die Nester der Abscheulichen müssen zerstört werden, und die Eindringlinge davon abgehalten werden, unsere Realität zu erobern. Aber wir können nicht abwarten, bis wir so schnell wie möglich neue Rüstungen bekommen! Wir brauchen sie jetzt. Sofort! Was haben wir denn, das uns vor einer feindlichen Attacke schützt, weil wir nach so einer großen Niederlage als schwach und verletzlich gelten? Was soll die Abscheulichen davon abhalten, gerade jetzt zuzuschlagen, als Vergeltung für die Zerstörung ihres Turms oder um uns davon abzuhalten, andere Nester anzugreifen? Wir brauchen unsere Torques. Die Familie muss geschützt werden. Sie muss wieder stark werden. Und dafür brauchen wir - einen neuen Anführer.«