Oh, Harry hält mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden. Ich bekomme regelmäßig Berichte und ich werde um nützliche Kommentare gebeten - die ich auch gebe. Meine Pflicht der Familie gegenüber hat sich nicht geändert. Aber du musst mich hier herausholen, Eddie. Harry ist dem Job nicht gewachsen. Die Familie verliert diesen Krieg. Ihr braucht meinen Rat und meine Erfahrung!«
»Ja«, sagte ich. »Das tun wir. Aber ich bin zurück und ich bin wieder am Zug, Großmutter. Und ich werde das auf meine Art tun. Bist du jetzt bereit, mit mir zu kooperieren?«
»Natürlich. Ich hatte lange Zeit, um über alles nachzudenken. Du und ich werden uns über viele Dinge nie einig sein, aber die Bedürfnisse der Familie gehen vor. Und jetzt braucht sie uns beide.« Sie sah auf die regungslose Gestalt auf dem Bett. »Er wird mich nicht vermissen. Er reagiert nicht einmal mehr auf meine Stimme. Jeder andere Pfleger ist genauso gut, bis er wieder erwacht.« Sie sah wieder zu mir. »Ich habe dir nicht vergeben, was du ihm angetan hast. Das werde ich nie. Aber die Pflicht kommt zuerst. Ich habe das immer gewusst.«
»Dann sollten wir hinunter in den Lageraum gehen«, sagte ich. »Damit du dort das Kommando übernehmen kannst. Du kannst das weit besser, als ich es je könnte. Und sie könnten da unten etwas Führung gebrauchen.«
Die Matriarchin sah mich direkt an. »Ich führe den Lageraum und du den Krieg. Wir können alles andere besprechen, nachdem wir den Krieg gewonnen haben.«
Ich grinste. »Ich freue mich schon drauf, Großmutter. Aber wir sollten etwas klarstellen. Du brauchst mich jetzt, wo Harry dich enttäuscht hat. Das ist der wahre Grund, warum du all dem zustimmst. Du hast mir nicht verziehen, dass ich dich vom Thron gestoßen und die Art und Weise geändert habe, wie es in der Familie läuft. Und ich habe dir all die Kinder nicht vergeben, die über die Jahre dem Herzen geopfert wurden. Wir können zusammenarbeiten und das werden wir auch tun, weil die Familie und die Welt das brauchen. Aber versteh mich richtig, Großmutter: Mach einen Versuch, meine Autorität zu untergraben oder versuch auch nur, die Kontrolle wieder an dich zu reißen und ich sorge dafür, dass du umgehend wieder hier landest und eingesperrt wirst. Auf Dauer.«
Sie lächelte mich an, dieses alte, vertraute, und kalte Lächeln. »Siehst du Edwin, du hast verstanden, wie man diese Familie leiten muss. Ich werde aus dir schon noch einen Drood machen. Ich erkläre mich mit all deinen Bedingungen einverstanden. Solange es dauert.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Selbst wenn ich einen Streit mit dir gewinne, habe ich das Gefühl, ich hätte ihn verloren. Eine letzte Frage, bevor wir gehen. Es wird immer deutlicher, dass es einen langjährigen Verräter geben muss, der mitten in der Familie sitzt. Jemand, der möglicherweise von den Abscheulichen infiziert ist, vielleicht sogar die Person, die seinerzeit dafür verantwortlich war, dass sie überhaupt hergeholt wurden. Hast du eine Idee, wer das sein könnte? Kommt dir irgendjemand in den Sinn?«
Sie starrte mich schockiert an. »Einen langjährigen Verräter? Unentdeckt seit dem Zweiten Weltkrieg? Unmöglich!«
»Leider nicht, Großmutter. Bist du sicher, dass dir niemand einfällt?«
»Ja. Es ist undenkbar …! Aber auf der anderen Seite ist so viel passiert, das ich einmal für undenkbar hielt. Ich werde die alten Familienchroniken konsultieren und sehen, ob dort etwas eine Erinnerung wachruft.«
»Okay. Dann lass uns gehen. Der Lageraum wartet.«
»Nein«, sagte Martha. Der autoritäre alte Kommandoton war jetzt wieder in ihrer Stimme. »Da ist immer noch etwas, was unbedingt sofort getan werden muss, zum Wohl der Familie. Du musst den Ausschluss von Harry und die Hinrichtung seines Liebhabers, diesem Höllengezücht, veranlassen. Man darf ihnen nicht gestatten, die Familie mit ihrer Anwesenheit länger zu infizieren.«
»Nein«, sagte ich und meine Stimme war so kalt und autoritär wie ihre. »Harry ist ein guter Frontagent, mit einer Menge Erfahrung. Wir brauchen ihn noch. Ich werde ihn nicht zum Vogelfreien erklären, nur weil er … Ich meine, komm schon, Großmutter, wir hatten doch schon schwule Leute in der Familie, seit Ewigkeiten. Das musst du doch bemerkt haben.«
»Natürlich habe ich das bemerkt! Mich kümmert doch nicht, dass er homosexuell ist! Deine Generation glaubt ständig, sie hat den Sex in all seinen Spielarten erfunden. Mich kümmert es einen feuchten Dreck, dass Harry schwul ist, mich kümmert, dass er es mit seinem Halbbruder ist! Inzest wie dieser ist bei den Droods strikt verboten, Edwin. Er muss es sein, oder wir wären schon längst Opfer der Inzucht geworden. Die Lebendigkeit und Kraft der Droodschen Blutlinie müssen strikt bewahrt werden, deshalb werden Heiraten immer so sorgfältig erwogen und wenn nötig auch verboten. Und darüber hinaus nimmt er auch noch ein Ding aus der Hölle als Liebhaber! Ich kann nicht glauben, dass du einer Höllenbrut Zugang zu diesem Haus gestattet hast!«
»Roger ist James' Sohn«, sagte ich vorsichtig. »Er ist immerhin dein Enkel, genau wie Harry und ich.«
»Er ist ein Dämon und man darf ihm nicht vertrauen«, sagte Martha rundheraus. »Töte ihn, Edwin. Zum Wohl der Familie und der Welt.«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich.
»Das habe ich dir immer gesagt, als du noch ein Kind warst und ich nicht die geringste Absicht hatte, das zu tun, was du wolltest«, sagte Martha trocken.
»Vielleicht hast du recht«, sagte ich. »Ich werde wohl wirklich langsam erwachsen.«
Wir standen beide auf. Die Matriarchin trat vor und für einen Moment glaubte ich, sie wolle mir die Hand formell schütteln. Stattdessen legte sie die Hände auf meine Schultern, drückte sie kurz und lächelte mich an.
»Mach mich stolz, Eddie.«
»Ich werde mein Bestes tun, Großmutter.«
»Das weiß ich.«
»Großmutter …«
»Ja, Eddie?«
»Du warst diejenige, die dem Premierminister gesagt hat, wo und wann er mich finden kann, als ich zu meiner alten Wohnung wollte, nicht wahr?«
»Aber natürlich, mein Lieber. Siehst du, du fängst ja doch an, wie ein Drood-Führer zu denken.«
Wir holten eine Schwester, die sich zu Alistair ans Bett setzte, und dann gingen die Matriarchin und ich hinunter in den Lageraum. Den ganzen Weg blieben die Leute stehen und gafften uns an - und brachen dann in spontanen Applaus aus. Einige jubelten sogar. Keiner hatte Martha seit eineinhalb Jahren in der Öffentlichkeit gesehen und jetzt war sie hier neben mir unterwegs. Die Nachricht verbreitete sich rasant und zu dem Zeitpunkt, als wir unten am Lageraum ankamen, hatten sich schon Massen von Menschen in den Korridoren und Gängen versammelt und jubelten uns zu. Die Matriarchin ignorierte sie alle mit einem steifen Rücken und hocherhobenem Kopf und sie liebten sie dafür. Einiges vom Jubel und dem Applaus war aber auch an mich gerichtet und ich deutete ein paar Kopfnicker und Lächler an und versuchte sehr sorgfältig, mir das nicht zu Kopf steigen zu lassen.
Als wir endlich in den Lageraum kamen, lief eine spürbare Welle von Erleichterung durch den großen Raum. Männer und Frauen erhoben sich an ihren Konsolen und Arbeitsstationen, um uns zuzujubeln und zu klatschen. Ein paar pfiffen sogar. Martha verbeugte sich einmal in den Raum hinein und machte dann eine schnelle Schnittgeste. Der Applaus stoppte auf der Stelle. Ich glaube nicht, dass ich das selbst zu meinen besten Zeiten geschafft hätte. Die Matriarchin stieß mit scharfer und autoritärer Stimme ein paar rasche Befehle aus, die vor allem ruhig und professionell klangen. Schon bald waren die Leute wieder an der Arbeit und mit neuer Begeisterung und Selbstvertrauen über ihre verschiedenen Stationen gebeugt. Botengänger flitzten hin und her wie die Verrückten und sammelten die Informationen ein, um die Matriarchin auf dem Laufenden zu halten, während andere sicherstellten, dass sie eine frische Kanne Tee und ein neues Paket gefüllte Kekse bekam. Manchmal glaube ich, diese Familie läuft nur, wenn es Tee und gefüllte Kekse gibt.