Für einen Augenblick verlor er die Besinnung, aber in dieser kurzen Spanne Zeit erblickte er im Traum unzählige Dinge: er sah seine Mutter mit ihren großen, weißen Händen, Sonjas schmale Schultern, Nataschas lachende Augen und Denissow im Schnurrbart mit seiner derben Stimme und Teljanin und die ganze Geschichte, die er mit ihm und Bogdanytsch erlebt hatte. Und diese ganze Geschichte und der Soldat mit der scharfen Stimme waren ein und dasselbe, und sie waren es, die ihn so qualvoll und hartnäckig festhielten und peinigten und seinen Arm immer nach einer Seite zerrten. Er versuchte, sich von ihnen loszumachen, aber sie ließen nicht um ein Haar locker, gaben nicht für einen Augenblick seine Schulter frei. Sie hätte nicht weh getan, wäre ganz gesund gewesen, wenn die beiden nicht immer an ihr gezerrt hätten. Aber es war unmöglich, von ihnen loszukommen.
Er schlug die Augen auf und sah nach oben. Der schwarze Schleier der Nacht senkte sich dicht über den Lichtschein der Kohlen. In diesem Lichtschein tanzten die fallenden Schneeflocken. Tuschin kehrte nicht zurück; der Arzt kam auch nicht. Er war ganz verlassen, nur ein nackter Soldat saß auf der anderen Seite des Feuers und wärmte sich seinen mageren gelben Körper. Niemand fragt nach mir, dachte Rostow. Niemand hat mit mir Mitleid, niemand hilft mir. Und doch hatte auch ich einmal eine Heimat, war stark und froh, und alle hatten mich gern. Er seufzte, und unwillkürlich ging sein Seufzen in Stöhnen über.
»Es tut Ihnen wohl recht weh?« fragte der Soldat, schwenkte sein Hemd über dem Feuer, räusperte sich und fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Heute wird wohl mancher auf den Hund gekommen sein, so ein Elend!«
Rostow hörte nicht, was der Soldat sagte. Er sah den über dem Feuer tanzenden Schneeflöckchen zu und dachte an den russischen Winter, an sein warmes, helles Haus, seinen molligen Pelz, seine flinken Schlitten, seinen gesunden Körper und an all die Liebe und Fürsorge der Seinen. Warum bin ich mitgegangen? dachte er. Am folgenden Tag griffen die Franzosen nicht noch einmal an, und die Überreste von Bagrations Abteilung konnten sich wieder mit Kutusows Armee vereinigen.
Dritter Teil
1
Fürst Wassilij pflegte nicht groß über seine Pläne nachzudenken. Noch weniger lag es in seiner Art, irgend jemandem etwas Böses zuzufügen, nur um für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Er war eben nur Weltmann, ein Mann, der es verstanden hatte, in der großen Welt vorwärtszukommen, und dem nun diese Art vorwärtszukommen zur Gewohnheit geworden war. Ununterbrochen entwarf er Pläne und Berechnungen, je nach den Umständen und je nach den Menschen, mit denen er zusammentraf, und obwohl er sich darüber nie genaue Rechenschaft ablegte, bildeten diese Kombinationen doch das Hauptinteresse seines Lebens. Und zwar waren immer nicht nur ein oder zwei solcher Pläne und Berechnungen bei ihm im Gang, sondern mindestens ein Dutzend, von denen die einen gerade erst in ihm aufgekeimt, andere schon in Erfüllung gegangen und wieder andere bereits zunichte geworden waren. Er überlegte sich zum Beispiel nicht im voraus: Dieser Mensch hat jetzt die Macht, ich muß mir sein Vertrauen und seine Freundschaft erwerben, um durch ihn die Auszahlung einer einmaligen Unterstützung zu erlangen, oder etwa: Pierre ist jetzt reich, ich muß ihn dazu bringen, meine Tochter zu heiraten und mir vierzigtausend Rubel zu leihen, sondern sein Instinkt sagte ihm ganz einfach in dem Augenblick, wo er mit solch einem einflußreichen Menschen zusammentraf, daß dieser ihm nützlich sein könne, und so näherte er sich ihm bei der ersten besten Gelegenheit ganz instinktmäßig und ohne jede Vorbereitung, schmeichelte ihm, schlich sich in sein Vertrauen ein und sprach dann von dem, was er gerade brauchte.
Pierre war ihm in Moskau unter die Hände geraten. Fürst Wassilij hatte sogleich Pierres Ernennung zum Kammerjunker erwirkt, was damals dem Rang eines Staatsrates gleichkam, und darauf bestanden, daß der junge Mann mit ihm zusammen nach Petersburg fuhr und in seinem Haus abstieg. Gewissermaßen absichtslos, dabei aber mit einer zweifellosen Zuversicht, daß dies alles eben so geschehen müsse, tat Fürst Wassilij einfach alles, um Pierre mit seiner Tochter zu verheiraten. Hätte er seine Pläne vorher immer sorgsam überlegt, so wäre er nicht imstande gewesen, so harmlos, einfach und natürlich mit allen Leuten zu verkehren, mochten sie nun über oder unter ihm stehen. Ein unwiderstehliches Etwas zog ihn beständig zu Leuten hin, die reicher und mächtiger waren als er, und er besaß die seltene Gabe, gerade immer den richtigen und möglichen Augenblick zu erhaschen, sich dieser Leute dann auch zu bedienen.
Als Pierre, der soeben noch unbekannt und einsam gelebt hatte, nun so plötzlich und unerwarteterweise ein reicher Mann und Graf Besuchow geworden war, fühlte er sich dermaßen belagert und in Anspruch genommen, daß er nur noch im Bett allein und für sich sein konnte. Ständig mußte er Papiere unterzeichnen, mit den verschiedensten Behörden verhandeln, von deren Bedeutung er noch nicht einmal eine klare Vorstellung hatte, mußte den Oberverwalter befragen, auf das bei Moskau gelegene Gut fahren und eine Unmenge von Leuten empfangen, die vorher nicht einmal von seiner Existenz etwas hatten wissen wollen, jetzt aber gekränkt und beleidigt gewesen wären, wenn er sie nicht empfangen hätte. Alle diese verschiedenartigen Persönlichkeiten: Geschäftsleute, Verwandte, Bekannte waren sämtlich dem jungen Erben gut und freundlich gesinnt. Sie alle schienen von den hohen Eigenschaften Pierres zweifellos überzeugt zu sein. Ständig hörte er die Worte: »Bei Ihrer ungewöhnlichen Herzensgüte« oder: »Bei Ihrem ausgezeichneten Herzen« oder: »Da Sie ja selber so herzensrein sind, Graf …« oder: »Wenn der so klug wäre wie Sie« und so weiter, und so weiter, so daß er innerlich schon selber an seine außergewöhnliche Herzensgüte und an seinen außergewöhnlichen Verstand zu glauben anfing, um so mehr, da es ihm schon immer im Grunde seiner Seele so vorgekommen war, als ob er tatsächlich ein sehr guter und sehr kluger Mensch wäre. Sogar Leute, die ihm früher gehässig und offenkundig feindselig begegnet waren, behandelten ihn jetzt sanft und liebenswürdig. Die älteste der Prinzessinnen, die mit der langen Taille und den, wie bei einer Puppe, glatt angeklebten Haaren, die früher immer gehässig gegen Pierre gewesen war, kam nach der Beerdigung auf sein Zimmer. Sie schlug die Augen nieder, wurde einmal über das andere Mal rot und sagte zu ihm, sie bedauere außerordentlich die früher zwischen ihnen vorgefallenen Mißverständnisse, und wenn sie sich auch nicht mehr berechtigt fühle, irgend etwas zu verlangen, so bitte sie doch noch um die Erlaubnis, nach dem schweren Schlag, der sie betroffen habe, noch einige Wochen in diesem Hause bleiben zu dürfen, das sie so sehr geliebt, und dem sie so viele Opfer gebracht habe. Sie konnte nicht mehr an sich halten und brach bei diesen Worten in Tränen aus. Pierre ergriff, ganz gerührt darüber, daß sich diese bildsäulenhafte Prinzessin so hatte verändern können, ihre Hand und bat sie um Verzeihung, obgleich er selber nicht wußte, wofür. Von diesem Tag an stickte die Prinzessin eine gestreifte Schärpe für Pierre und benahm sich gegen ihn wie umgewandelt.
»Tu es meinetwegen, mon cher, immerhin hat sie von dem Verstorbenen viel auszustehen gehabt«, sagte Fürst Wassilij zu Pierre und legte ihm ein Schriftstück zugunsten der Prinzessin zum Unterzeichnen vor.
Fürst Wassilij hatte sich entschlossen, der armen Prinzessin doch diesen Knochen, einen Wechsel von dreißigtausend Rubel, hinzuwerfen, damit es ihr nicht etwa in den Sinn käme, über seine Beteiligung an der Sache mit dem Mosaikportefeuille etwas auszuschwatzen. Pierre unterschrieb den Wechsel, und von diesem Augenblick an wurde die Prinzessin noch liebreicher. Auch die jüngeren Schwestern waren sehr freundlich gegen ihn, und besonders die jüngste, die hübsche mit dem Leberfleck, brachte Pierre durch ihr Lächeln und ihre Verlegenheit, wenn sie ihn sah, oft in Verwirrung.