Pierre kam das so natürlich vor, daß alle ihn liebhatten, wie es ihm unnatürlich erschienen wäre, wenn jemand ihn gehaßt hätte, so daß ihm gar kein Zweifel an der Aufrichtigkeit der Leute, die ihn umgaben, kommen konnte. Zudem hätte er auch gar nicht die Zeit dazu gehabt, sich zu fragen, ob diese Leute nun aufrichtig waren oder nicht. Er war dauernd in Anspruch genommen und befand sich ständig im Zustand eines milden, heiteren Rausches. Er fühlte sich immer als Mittelpunkt einer allgemeinen, wichtigen Bewegung, fühlte, daß man ständig irgend etwas von ihm erwartete, und daß, wenn er dies nicht täte, er viele kränken und einer Hoffnung berauben würde, täte er es hingegen, dann würde alles gut und schön sein – und so tat er denn alles, was man von ihm verlangte, aber das Gute und das Schöne blieb dennoch der Zukunft vorbehalten.
Der erste, der sich nicht nur aller Angelegenheiten Pierres, sondern auch seiner Person selber bemächtigt hatte, war Fürst Wassilij gewesen. Seit dem Tode des alten Grafen Besuchow hatte er Pierre nicht aus den Händen gelassen. Er gab sich den Anschein eines von Geschäften überhäuften, müden und gequälten Mannes, der es aber aus lauter Mitgefühl doch nicht übers Herz bringe, diesen hilflosen jungen Mann, der apres tout doch der Sohn seines Freundes war, mit einem solch gewaltigen Vermögen den Launen des Schicksals und Ausbeutereien von Spitzbuben zu überlassen. Während der wenigen Tage, die er nach dem Tode des Grafen Besuchow noch in Moskau zubrachte, ließ er Pierre häufig zu sich rufen oder ging auch selber zu ihm hinein und schrieb ihm alles vor, was er tun mußte, und zwar in einem so müden und überzeugten Ton, als wolle er jedesmal sagen: Du weißt, ich bin mit Geschäften überhäuft, und es geschieht nur aus Mitleid, daß ich mich mit dir abgebe, und du siehst wohl auch ein, daß diese Sache nur so, wie ich sie dir eben vorschlage, zu machen ist.
»Na, mein Freund, morgen reisen wir endlich ab«, sagte er eines Tages zu ihm, kniff die Augen zusammen und faßte ihn am Ellenbogen, und zwar sagte er das in einem Ton, als wäre das schon lange eine abgemachte Sache zwischen ihnen gewesen, die gar nicht anders hätte entschieden werden können. »Morgen reisen wir, und ich gebe dir einen Platz in meinem Reisewagen. Ich bin sehr froh. Alles Wichtige ist nun hier für uns erledigt. Und für mich wäre es schon lange Zeit gewesen. Dies hier habe ich soeben vom Kanzler bekommen. Ich hatte ihn deinetwegen gebeten … du bist nun in das diplomatische Korps eingereiht und zum Kammerjunker ernannt worden. Die Diplomatenlaufbahn steht dir nun offen.«
Trotz des durch seine Müdigkeit und Bestimmtheit überzeugenden Tones, in dem diese Worte gesprochen worden waren, wollte Pierre, der so lange über seine künftige Laufbahn nachgegrübelt hatte, doch etwas darauf erwidern. Aber Fürst Wassilij unterbrach ihn mit jenem tiefen, brummenden Ton, der jede Möglichkeit einer Unterbrechung seiner Rede einfach ausschloß, und dessen er sich nur in den Fällen bediente, wo er unbedingt jemanden überzeugen wollte.
»Mais, mon cher, das habe ich ja nur meinetwegen getan, um mein Gewissen zu beruhigen, du brauchst mir deshalb nicht zu danken. Noch nie hat sich jemand darüber beschwert, daß nun ihm zu viel Liebe entgegengebracht hätte, und dann bist du ja ganz frei; wenn du willst, kannst du morgen das alles schon wieder aufgeben. Aber das wirst du in Petersburg ja schon« selber sehen. Es ist die höchste Zeit für dich, daß du dich von diesen traurigen Erinnerungen losmachst.« Fürst Wassilij seufzte. »Ja, ja, so ist es, mein Guter. Mein Kammerdiener kann ja in deinem Wagen fahren. Ach ja, das habe ich ganz vergessen«, fügte er noch hinzu, »du weißt, mon cher, daß ich mit dem Verstorbenen Geldgeschäfte hatte; da ist mir nun jetzt aus dem Rjasaner Gut etwas ausgezahlt worden, und das möchte ich behalten: du brauchst es ja nicht. Wir rechnen dann später einmal miteinander ab.«
Dieses »Etwas aus dem Rjasaner Gut«, das Fürst Wassilij für sich behalten wollte, war das Pachtgeld von mehreren tausend Rubeln.
Wie in Moskau, so sah sich Pierre auch in Petersburg augenblicklich von einem Kreis zärtlicher und liebevoller Menschen umringt. Er hatte gar nicht Zeit, auf das Amt, das ihm Fürst Wassilij verschafft hatte, oder richtiger gesagt auf den Titel – denn er hatte ja dabei gar nichts zu tun – zu verzichten, denn die Bekanntschaften, Einladungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen häuften sich so sehr, daß Pierre hier mehr noch als in Moskau das Gefühl eines Rausches, einer Unstetheit und eines Glückes empfand, das ihm immer vor Augen schwebte, aber niemals zur Wirklichkeit wurde.
Aus seinem früheren Junggesellenkreis waren jetzt viele nicht mehr in Petersburg. Die Garde war ins Feld gerückt, Dolochow degradiert, Anatol in der Provinz bei der Armee, Fürst Andrej im Ausland, und so konnte Pierre weder seine Nächte so verleben, wie er sie früher gern verlebt hatte, noch ab und zu in freundschaftlichem Gespräch einem alten, vertrauten Freund das Herz ausschütten. Er verbrachte seine ganze Zeit mit Diners und Bällen, vorzugsweise beim Fürsten Wassilij, in Gesellschaft der dicken Fürstin, der Frau des Fürsten Wassilij, und der schönen Helene.
Selbst Anna Pawlowna Scherer tat, wie alle übrigen auch, durch ihr Benehmen Pierre gegenüber kund, mit welch anderen Augen er jetzt in der Gesellschaft angesehen wurde.
Früher hatte Pierre in Anwesenheit Anna Pawlownas immer das Gefühl gehabt, daß das, was er sagte, ungehörig, taktlos und überflüssig war, und daß alle seine Worte, die ihm doch, solange er sie im Geiste vorbereitete, ganz vernünftig erschienen waren, sogleich dumm wurden, sobald er sie nur laut aussprach, während die stumpfsinnigsten Reden Hippolyts immer klug und liebenswürdig erschienen. Jetzt aber erwies sich alles, was er nur sagte, als charmant. Und wenn auch Anna Pawlowna das nicht aussprach, so merkte er doch, daß sie die größte Lust hatte, es zu sagen, und nur aus Achtung vor seiner Bescheidenheit davon Abstand nahm.
Zu Anfang des Winters von 1805 auf 1806 erhielt Pierre von Anna Pawlowna die obligate rosa Einladungskarte, auf der sie noch hinzugefügt hatte: »Sie werden bei mir die schöne Helene treffen, die man ja nie müde wird, anzuschauen.«
Als Pierre diese Stelle las, fühlte er zum erstenmal, daß zwischen ihm und Helene eine gewisse Verbindung bestand, die bereits von anderen Leuten anerkannt wurde, und dieser Gedanke erschreckte ihn einerseits, als lege er ihm eine Verpflichtung auf, der er nicht nachkommen könne, andrerseits fand er aber auch wieder Gefallen daran wie an einer Vorahnung von etwas recht Ergötzlichem.
Die Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna verlief genauso wie die erste, nur war diesmal das neue Gericht, das sie ihren Gästen vorsetzte, nicht mehr Mortemart, sondern ein Diplomat, der soeben erst aus Berlin gekommen war und die allerneuesten Einzelheiten über den Aufenthalt Kaiser Alexanders in Potsdam mitbrachte. Er erzählte, wie diese zwei allerhöchsten Freunde sich dort geschworen hatten, in unzertrennlichem Bund für die gerechte Sache gegen den Feind der Menschheit einzustehen. Anna Pawlowna empfing Pierre mit einem leisen Anflug von Wehmut, die sich offenbar auf den frischen Verlust, den der junge Mann durch den Tod des Grafen Besuchow erlitten hatte, beziehen sollte – es hielten nämlich alle dauernd für ihre Pflicht, Pierre davon zu überzeugen, daß er über den Tod seines Vaters, den er doch fast nicht gekannt hatte, trostlos war –, und diese Wehmut Anna Pawlownas war eben die selbe wie jene allerhöchste Wehmut, die sich immer auf ihren Zügen ausprägte, sobald nur die erhabene Kaiserin Maria Fjodorowna erwähnt wurde. Pierre fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt. Mit ihrer gewohnten Kunstfertigkeit brachte Anna Pawlowna in ihrem Salon die richtigen Kreise zusammen. Der größte Kreis, in dem sich Fürst Wassilij und die Generäle befanden, scharte sich um den Diplomaten. Ein zweiter Kreis hatte sich um den Teetisch gebildet. Pierre wollte sich dem ersten zugesellen, aber Anna Pawlowna, die sich in der Aufregung eines Feldherrn befand, dem auf dem Schlachtfeld tausend neue glänzende Gedanken kommen, die er kaum alle zur Ausführung bringen kann, faßte Pierre, als sie ihn nur gesehen hatte, sogleich am Arm.