Wie kann man nur an solche Nichtigkeiten denken und davon reden! dachte Pierre. »Ja, aus Olmütz«, erwiderte er dann mit einem Seufzer.
Nach dem Abendessen führte Pierre seine Tischdame hinter den anderen Paaren her in den Salon. Die Gäste fingen an aufzubrechen, manche fuhren ab, ohne sich von Helene zu verabschieden. Andere wiederum traten, als wünschten sie nicht, sie in ihrer ernsthaften Unterhaltung zu stören, nur auf einen Augenblick zu ihr heran, entfernten sich sogleich wieder und baten Helene, sie nicht etwa hinauszubegleiten. Der Diplomat schwieg melancholisch und ging aus dem Salon. Die ganze Eitelkeit seiner diplomatischen Laufbahn trat ihm plötzlich klar vor die Seele im Vergleich zu Pierres Glück. Der alte General brummte grimmig seine Frau an, als sie sich nach dem Befinden seiner Beine erkundigte. Ach, die alte Schachtel! dachte er. Wenn man diese Helene dagegen sieht, die wird noch mit fünfzig Jahren eine Schönheit sein!
»Ich glaube, man kann Ihnen gratulieren«, flüsterte Anna Pawlowna der Fürstin zu und küßte sie herzlich. »Wenn ich nicht diese Migräne hätte, würde ich noch hier bleiben.«
Die Fürstin gab keine Antwort; sie quälte der Neid auf das Glück ihrer Tochter.
Während man die Gäste hinausbegleitete, blieb Pierre lange mit Helene in dem kleinen Salon, wo sie Platz genommen hatten, allein zurück. Er war im Verlauf dieser anderthalb Monate auch früher schon oft mit Helene allein geblieben, niemals aber hatte er zu ihr von Liebe gesprochen. Jetzt fühlte er, daß dies seine unvermeidliche Pflicht sei, aber er konnte sich durchaus nicht zu diesem letzten Schritt entschließen. Er schämte sich und ihm schien, daß er hier neben Helene den Platz eines anderen einnehme. Nicht für dich ist dieses Glück, sagte ihm eine innere Stimme. Dies Glück ist für solche, die das nicht haben, was du hast.
Aber er mußte irgend etwas sagen, und so fing er zu reden an. Er fragte sie, ob sie von dem heutigen Abend befriedigt sei. Sie antwortete so klar und schlicht wie immer, daß der heutige Namenstag für sie einer der angenehmsten gewesen sei, den sie je erlebt habe.
Einige der nächsten Verwandten blieben noch da. Sie nahmen im großen Salon Platz. Fürst Wassilij trat mit gemächlichen Schritten auf Pierre zu. Pierre erhob sich mit dem Bemerken, daß es schon spät sei. Fürst Wassilij sah ihn streng und fragend an, als wäre das, was er da gesagt hatte, so sonderbar, daß man es gar nicht hören dürfe. Aber gleich darauf änderte er seinen strengen Gesichtsausdruck, zog Pierre an der Hand wieder auf seinen Sessel zurück und lächelte ihm freundlich zu.
»Nun Lola?« wandte er sich an seine Tochter in dem lässigen Ton gewohnter Zärtlichkeit, der Eltern, die von klein auf ihre Kinder verhätscheln, zur zweiten Natur wird. Doch Fürst Wassilij hatte sich diesen Ton nur durch Nachahmung anderer Eltern angeeignet.
Schon wandte er sich wieder an Pierre.
»Sergej Kusmitsch, von allen Seiten …« wiederholte er und knöpfte sich den obersten Westenknopf auf.
Pierre lächelte, aber aus diesem Lächeln war zu sehen, daß er verstanden hatte, daß es nicht die Anekdote von Sergej Kusmitsch war, die augenblicklich Fürst Wassilij interessierte, und Fürst Wassilij merkte wiederum seinerseits, daß Pierre dies durchschaut hatte. Fürst Wassilij brummte etwas vor sich hin und ging hinaus. Pierre hatte den Eindruck, daß sogar der Fürst verlegen geworden war. Diesen alten Weltmann verlegen zu sehen, rührte Pierre, und er blickte Helene an. Auch sie schien verlegen zu sein, und ihr Blick sagte deutlich: Was wollen Sie, an alledem sind nur Sie allein schuld.
Ich muß unbedingt, unbedingt den Schritt tun, aber ich kann nicht, ich kann nicht, dachte Pierre und sprach wieder von etwas Nebensächlichem, von Sergej Kusmitsch, und fragte, worin eigentlich diese Anekdote bestehe, er habe das vorhin nicht gehört. Helene antwortete ihm lächelnd, sie wisse das ebenfalls nicht.
Als Fürst Wassilij in den großen Salon zurückkehrte, unterhielt sich die Fürstin gerade mit einer älteren Dame über Pierre.
»Natürlich, c’est un parti très brillant, mais le bonheur, ma chère …«
»Les mariages se font dans les cieux«, erwiderte die ältere Dame.
Fürst Wassilij ging vorüber, als hätte er das Gespräch der beiden Damen nicht gehört, und setzte sich in einer entfernten Ecke auf ein Sofa. Er schloß die Augen, als wolle er ein wenig schlummern. Da fiel sein Kopf nach vorn über, und er schlug die Augen wieder auf.
»Aline«, sagte er zu seiner Frau, »sieh, was sie treiben.«
Die Fürstin ging nach der Tür, schritt mit vielsagend gleichgültiger Miene an ihr vorüber und warf einen Blick in den kleinen Salon. Pierre und Helene saßen noch ebenso da und unterhielten sich.
»Noch immer dasselbe«, antwortete sie ihrem Mann.
Fürst Wassilij wurde finster, zog den Mund schief, und über sein Gesicht huschte der ihm eigne, unangenehm rohe Ausdruck. Er gab sich einen Ruck, stand auf, warf den Kopf zurück und ging entschlossen an den Damen vorüber in den kleinen Salon. Mit kleinen, schnellen Schritten eilte er erfreut auf Pierre zu. Sein Gesicht zeigte einen so außerordentlich feierlichen Ausdruck, daß Pierre, als er ihn sah, betroffen aufsprang.
»Gott sei Dank!« sagte er. »Meine Frau hat mir alles gesagt.« Er nahm Pierre in den Arm und in den andern seine Tochter. »Meine liebe Lola! Ich freue mich außerordentlich, außerordentlich.« Seine Stimme fing an zu zittern. »Ich habe schon deinen Vater geliebt, Pierre … sie wird dir eine gute Frau sein … Der Herr segne euch!«
Er umarmte seine Tochter und dann wieder Pierre und küßte ihn mit seinem übelriechenden Mund. Tatsächlich rannen Tränen über seine Backen.
»Fürstin, komm doch mal hierher!« rief er.
Die Fürstin kam herbei und fing ebenfalls an zu weinen. Auch die ältere Dame fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen. Pierre ließ sich küssen und küßte der schönen Helene mehrmals die Hand. Bald darauf ließ man sie wieder allein.
Wahrscheinlich muß das alles so sein und hätte gar nicht anders kommen können, dachte Pierre. Deshalb hat es auch keinen Sinn, sich zu fragen, ob es gut so ist oder nicht. Schön, daß es endlich entschieden ist und die früheren quälenden Zweifel aus der Welt geschafft sind. Pierre hielt schweigend die Hand seiner Braut in der seinen und blickte auf ihren schönen Busen, der sich hob und senkte.
»Helene!« sagte er dann laut, aber schon stockte er wieder.
Bei einer solchen Gelegenheit muß man doch etwas ganz Besonderes sagen, dachte er, konnte aber keineswegs darauf kommen, was man nun gerade in einem solchen Fall sagen müsse. Er sah ihr ins Gesicht. Sie kam näher an ihn heran. Ihr Gesicht war mit einer feinen Röte übergossen.
»Ach, nehmen Sie doch dieses … dieses Ding da … ab«, sie zeigte auf seine Brille.
Pierre nahm die Brille ab, und seine Augen zeigten einen erschrocken fragenden Ausdruck, ganz abgesehen von dem sonderbaren Aussehen, das Leuten, die ihre Brille abnehmen, allgemein zu eigen ist. Er wollte sich zu ihrer Hand hinabbeugen und sie küssen, sie aber fing mit einer raschen, derben Bewegung ihres Kopfes seine Lippen auf und vereinte sie mit den ihren im Kusse. Ihr Gesicht hatte sich ganz verändert, und der unangenehm lüsterne Ausdruck ihrer Züge setzte Pierre in Erstaunen.
Nun ist es zu spät, alles ist abgemacht, und ich liebe sie ja auch, dachte Pierre. »Je vous aime!« sagte er, sich daran erinnernd, was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen hat, aber diese Worte klangen so armselig, daß er sich selber ihrer schämte.
Nach anderthalb Monaten war er getraut und siedelte nun als glücklicher Besitzer einer bildschönen jungen Frau und vieler Millionen, wie die Leute sagten, in das große, neuhergerichtete Petersburger Haus des Grafen Besuchow über.
3
Im November des Jahres 1805 erhielt der alte Fürst Nikolaj Andrejewitsch Bolkonskij einen Brief vom Fürsten Wassilij, worin ihm dieser seine und seines Sohnes Ankunft mitteilte. »Ich fahre zur Revision und werde selbstverständlich diesen Umweg von hundert Werst nicht scheuen, um Sie, meinen hochverehrten Wohltäter, einmal zu besuchen«, schrieb er. »Mein Anatol begleitet mich. Er zieht ins Feld, und ich hoffe, Sie werden ihm erlauben, daß er Ihnen persönlich die tiefe Ehrfurcht bezeugt, die er ganz wie sein Vater für Sie hegt.«