Aber als Katja das gewünschte Kleid brachte, saß Prinzessin Marja starr vor dem Spiegel, blickte in ihr Gesicht, und Katja sah, daß in ihren Augen Tränen standen und ihr Mund zitterte, als wolle sie anfangen zu schluchzen.
»Voyons, chère princesse«, sagte Mademoiselle Bourienne, »nur noch einen letzten Anlauf.«
Die kleine Fürstin nahm der Zofe das Kleid ab und trat auf Prinzessin Marja zu.
»Nein, jetzt halten wir das ganz schlicht und lieb«, sagte sie.
Die Stimmen von ihr, Mademoiselle Bourienne und Katja, die über alles lachte, flossen zu einem lustigen Einklang zusammen, ähnlich einem Vogelgezwitscher.
»Non, laissez-moi!« bat Prinzessin Marja.
Und aus ihrer Stimme tönte so viel Ernst und Qual, daß das Vogelgezwitscher augenblicklich verstummte. Sie sahen, wie ihre großen, schönen Augen, gedankenschwer und voll Tränen, sie klar und bittend anblickten, und verstanden, daß alles weitere Zureden zwecklos und sogar grausam wäre.
»So ändere wenigstens die Frisur«, sagte die kleine Fürstin. »Ich habe es Ihnen gleich gesagt«, fügte sie mit einem Vorwurf zu Mademoiselle Bourienne gewandt hinzu. »Marie hat ein Gesicht, zu dem diese Art von Frisur durchaus nicht paßt. Mais du tout, du tout! Changez de grâce!«
»Laissez-moi, laissez-moi, das ist mir ja alles ganz gleichgültig«, erwiderte Prinzessin Marja mit einer Stimme, der man die verhaltenen Tränen anhörte.
Mademoiselle Bourienne und die kleine Fürstin mußten sich selber eingestehen, daß Prinzessin Marja in diesem Aufzug sehr häßlich aussah, häßlicher als gewöhnlich, aber es war bereits zu spät. Sie sah sie mit jenem Ausdruck an, den sie so wohl an ihr kannten, mit dieser gedankenschweren, wehmütigen Miene. Doch dieser Ausdruck erweckte in ihnen keine Furcht vor Prinzessin Marja – ein solches Gefühl flößte sie niemandem ein –, aber sie wußten, daß, wenn sich dies auf ihrem Gesicht zeigte, sie stumm und unerschütterlich auf ihren Entschlüssen beharrte.
»Du wirst sie ändern, nicht wahr?« sagte Lisa und verließ, als Prinzessin Marja keine Antwort gab, das Zimmer.
Prinzessin Marja blieb allein. Sie erfüllte Lisas Wunsch nicht und ließ nicht nur ihre Frisur so, wie sie war, sondern sah nicht einmal mehr in den Spiegel. Erschöpft schlug sie die Augen nieder und ließ die Hände sinken, setzte sich still hin und dachte nach. Sie träumte von dem Mann, einem starken, alles überwindenden Mann, der sie auf ganz unbegreifliche Weise anzog und plötzlich in seine eigne, ihr ganz fremde, glückliche Welt hinübertragen sollte. Und sie stellte sich vor, wie ein solches Kindchen, wie sie es gestern bei der Tochter ihrer Amme gesehen hatte, als ihr eigenes an ihrer eigenen Brust liegen würde. Und der Mann stand neben ihr und blickte zärtlich bald auf sie, bald auf das Kindchen. Nein, nein, das ist unmöglich; ich bin zu häßlich, dachte sie.
»Der Teetisch ist fertig. Seine Durchlaucht werden sogleich erscheinen«, meldete an der Tür das Stubenmädchen.
Die Prinzessin kam zu sich und erschrak über das, woran sie soeben gedacht hatte. Sie erhob sich, trat aber, ehe sie hinunterging, noch einmal vor den Schrein, heftete den Blick auf das von einem Lämpchen erleuchtete, rauchgeschwärzte Gesicht des großen Erlöserbildes und blieb mit gefalteten Händen ein paar Augenblicke vor ihm stehen. Prinzessin Marjas Seele erfüllten quälende Zweifel. Waren für sie die Freuden der Liebe, der irdischen Liebe zu einem Mann, überhaupt möglich? Wenn sie an eine Ehe dachte, träumte sie wohl auch von Familienglück und von Kindern, aber das, was sie hauptsächlich und am stärksten und geheimsten beschäftigte, war doch der Gedanke an die Liebe eines Mannes. Und je mehr sie sich bemühte, diese Gedanken vor allen anderen, ja sogar vor sich selber zu verbergen, um so häufiger kamen sie ihr. Mein Gott, betete sie, wie kann ich nur in meinem Herzen diese Eingebungen des Teufels ersticken? Wie kann ich nur auf immer diese sündhaften Gedanken loswerden, um in Frieden deinen Willen zu erfüllen? Aber kaum hatte sie diese Frage gestellt, als ihr Gott schon die Antwort in ihrem eigenen Herzen eingab: Wünsche nichts für dich selbst, suche nicht, errege dich nicht und sei nicht neidisch. Die Zukunft der Menschen und dein eignes Schicksal sollen dir unbekannt bleiben, aber lebe so, daß du immer zu allem bereit bist. Wenn es Gott gefallen sollte, dir die Pflichten einer Ehe aufzuerlegen, so sei bereit, seinen Willen zu erfüllen. Bei diesem beruhigenden Gedanken – aber immerhin in der Hoffnung auf Erfüllung ihrer unerlaubten irdischen Träume – seufzte Prinzessin Marja tief auf, bekreuzigte sich und ging dann hinunter, ohne an ihr Kleid oder ihre Frisur oder daran zu denken, wie sie eintreten und was sie sagen sollte. Wie nichtig war doch das alles im Vergleich mit der Vorsehung Gottes, ohne dessen Willen kein Haar vom Kopf eines Menschen fällt.
4
Als Prinzessin Marja eintrat, saß Fürst Wassilij mit seinem Sohn bereits im Salon und unterhielt sich mit der kleinen Fürstin und Mademoiselle Bourienne. Mit ihrem schweren Gang, den ganzen Fuß mit der Ferse aufsetzend, ging Prinzessin Marja durchs Zimmer. Die Herren und Mademoiselle Bourienne standen auf, und die kleine Fürstin wies mit der Hand auf ihre Schwägerin und sagte zu den Gästen: »Da ist Marie.«
Prinzessin Marja sah alle an und beobachtete alles genau. Sie betrachtete das Gesicht des Fürsten Wassilij, das bei ihrem Anblick einen Augenblick ernsthaft geworden war, dann aber gleich wieder lächelte, beobachtete, wie die kleine Fürstin neugierig auf den Gesichtern der Gäste den Eindruck festzustellen suchte, den Marie hervorbrachte. Sie sah Mademoiselle Bourienne mit ihrem Band und dem hübschen Gesicht, den Blick so angeregt wie noch nie auf ihn gerichtet, ihn aber konnte sie nicht sehen: sie sah nur etwas Großes, Helles und Schönes, das auf sie zukam, als sie ins Zimmer trat. Zuerst kam Fürst Wassilij zu ihr heran, und sie küßte seinen kahlen Kopf, der sich über ihre Hand beugte, und antwortete ihm auf seine Frage, daß sie sich ganz im Gegenteil noch sehr gut auf ihn besinnen könne. Dann trat Anatol auf sie zu. Sie sah ihn noch immer nicht, fühlte nur eine weiche Hand, die fest die ihrige ergriff, und berührte kaum seine weiße Stirn unter dem prachtvollen, blonden, pomadisierten Haar. Als sie ihn dann endlich ansah, setzte seine Schönheit sie in Erstaunen. Anatol hatte den Daumen der rechten Hand hinter einen Knopf seines geschlossenen Uniformrockes gesteckt, die Brust herausgereckt und den Rücken geradegerichtet, wiegte sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf dem einen nach hinten gestellten Bein und sah die Prinzessin schweigend und heiter an, anscheinend ohne überhaupt an sie zu denken. Anatol war nicht gerade gewandt und schnell in der Unterhaltung, aber er besaß die in der großen Welt kostbare Gabe eines ruhigen, unerschütterlichen Selbstvertrauens. Wenn ein Mensch mit mangelndem Selbstvertrauen bei einem ersten Bekanntwerden schweigt und das Bewußtsein der Ungeschicklichkeit dieses Schweigens und den Wunsch, irgendein Gesprächsthema zu finden, verrät, so gibt er sich dadurch eine Blöße. Anatol aber schwieg, wiegte sich leicht hin und her und betrachtete belustigt die Frisur der Prinzessin. Man sah deutlich, daß er noch lange mit derselben Ruhe hätte schweigen können. Wenn jemand dieses Schweigen peinlich ist, so kann er ja reden, ich habe keine Lust dazu, schien seine Miene zu sagen. Außerdem pflegte Anatol mit Frauen immer in einer Art umzugehen, die jenen stets Neugier, Furcht und sogar Liebe einflößte: er behandelte sie geringschätzig aus dem Bewußtsein seiner eignen Überlegenheit heraus. Es war, als wollte seine Miene sagen: Ich kenne euch, kenne euch, wozu sich da mit euch abgeben? Euch würde es natürlich freuen, wenn ich es täte! Möglicherweise dachte er das gar nicht, wenn er mit Frauen zusammenkam – und das war sogar anzunehmen, weil er überhaupt wenig dachte –, aber er sah nun einmal so aus und benahm sich so. Die Prinzessin merkte das gleich, und da sie ihm zeigen wollte, daß sie gar nicht daran zu denken wagte, ihn in Anspruch zu nehmen, wandte sie sich wieder dem alten Fürsten zu.