Выбрать главу

Die Garde hatte den Feldzug bisher als einen Spaziergang betrachtet und bildete sich nicht wenig auf ihre Sauberkeit und Disziplin ein. Die Märsche waren klein gewesen, die Tornister hatte man auf Wagen mitgeführt, und nach allen Märschen hatten die österreichischen Behörden für die Offiziere ein glänzendes Essen bereitgehalten. Mit Musik waren die Regimenter in die Städte ein- und ausgerückt, und auf einen Befehl des Großfürsten waren die Soldaten auf allen Märschen – und darauf war die Garde ganz besonders stolz – immer im Tritt gegangen und die Offiziere ebenfalls zu Fuß an der Spitze ihrer Kompanien. Boris war während des ganzen Marsches immer mit Berg zusammengewesen, der bereits Kompanieführer war. Er hatte diese Kompanie erst während des Marsches erhalten, sich durch seine Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben und seine finanziellen Angelegenheiten zur Zufriedenheit geordnet. Boris hatte während des Marsches die Bekanntschaft vieler Leute gemacht, die ihm nützlich sein konnten, war durch einen Empfehlungsbrief, den Pierre ihm gesandt hatte, mit dem Fürsten Andrej Bolkonskij bekannt geworden, durch den er einen Posten beim Stabe des Oberkommandierenden zu erhalten hoffte.

Berg und Boris hatten sich gerade von dem letzten Tagesmarsch ausgeruht, saßen nun, sauber und adrett gekleidet, in dem ihnen angewiesenen, blitzblanken Quartier vor einem runden Tisch und spielten Schach. Berg hielt eine lange, brennende Pfeife zwischen den Knien. Boris baute mit seinen feinen weißen Händen und mit der ihm eignen Sorgfalt eine Pyramide aus den sich nicht mehr im Spiel befindenden Schachfiguren, wartete auf Bergs Zug und blickte seinem Partner ins Gesicht. Anscheinend waren seine Gedanken nur beim Spiel, wie er überhaupt immer nur an das dachte, was ihn gerade beschäftigte.

»Bin gespannt, wie Sie sich da aus der Schlinge ziehen«, sagte er.

»Werden uns schon alle Mühe geben«, entgegnete Berg, faßte einen Stein an, zog aber gleich wieder die Hand zurück.

In diesem Augenblick tat sich die Tür auf.

»Endlich habe ich ihn erwischt!« rief Rostow. »Und Berg ist auch da! Ach du, ›petits enfants, allez coucher dormir‹«, rief er und wiederholte die Worte ihrer alten Kinderfrau, über die sie zusammen immer so gelacht hatten. »Mein Gott, wie du dich verändert hast!«

Boris ging Rostow entgegen, wobei er beim Aufstehen nicht versäumte, die Schachfiguren zu halten und die umgefallenen wieder aufzustellen. Er wollte seinen Freund umarmen, aber Nikolaj schob ihn beiseite. In dem der Jugend eignen Drang, der die althergebrachten Wege und jede Nachahmung scheut und seine Gefühle auf seine Art und in einer neuen Weise und nicht so, wie dies oft heuchlerisch die alte Generation tut, zum Ausdruck bringen möchte, wollte Nikolaj bei diesem Wiedersehen mit seinem Freund etwas ganz Besonderes tun: er verspürte die größte Lust, ihn zu kneipen oder zu puffen, nur nicht, sich mit ihm zu küssen, wie das alle anderen taten. Boris dagegen umarmte Rostow ruhig und freundschaftlich und küßte ihn dreimal.

Sie hatten sich fast ein halbes Jahr lang nicht gesehen, und da das gerade in einer Zeit war, wo die jungen Leute die ersten Schritte ins Leben hinein getan hatten, fanden sie, daß sie sich beide mächtig verändert hatten, und daß jene Gesellschaft, die zum Schauplatz ihres ersten Auftretens geworden war, schon tüchtig auf sie abgefärbt hatte. Seitdem sie das letztemal zusammengewesen waren, waren sie beide ganz anders geworden und wollten sich nun so bald wie möglich gegenseitig über die in ihnen vorgegangene Umwandlung aussprechen.

»Ach, ihr verfluchten Fatzken! Geschniegelt und gebügelt wie zu einem Stadtbummel! Und wir dagegen, wir armen Frontsoldaten!« rief Rostow mit einer Baritonstimme, die Boris noch gar nicht an ihm kannte, und wies mit der Gebärde eines alten, feuererprobten Soldaten auf seine mit Kot bespritzte Reithose.

Durch Rostows laute Stimme herbeigelockt, steckte die deutsche Quartierwirtin ihren Kopf zur Tür herein.

»Ist sie hübsch?« fragte Rostow und zwinkerte mit den Augen.

»Schrei doch nicht so! Du jagst ihnen ja nur einen Schrecken ein«, erwiderte Boris. »Ich hatte dich heute noch gar nicht erwartet«, fügte er hinzu. »Erst gestern habe ich den Brief durch Bolkonskij, einen Bekannten von mir, der bei Kutusow Adjutant ist, an dich abgeschickt. Ich dachte nicht, daß du ihn so schnell erhalten würdest … Na, was machst du denn? Schon im Feuer gewesen?« fragte Boris.

Rostow gab keine Antwort, schüttelte nur das Georgskreuz, das an den Schnüren seines Uniformrockes hing, wies auf seinen verbundenen Arm und sah Berg lächelnd an.

»Wie du siehst«, sagte er.

»Schau, schau! Ja, ja«, erwiderte Boris lächelnd. »Wir haben aber auch einen tüchtigen Marsch hinter uns. Doch weißt du, Seine Hoheit ist beständig mit unserem Regiment geritten, und dadurch hatten wir alle Vorteile und Bequemlichkeiten. Wie wir in Polen empfangen worden sind, was für Diners und Bälle wir dort mitgemacht haben, das kann ich dir gar nicht beschreiben. Und Seine Hoheit war gegen uns Offiziere immer äußerst gnädig.«

Und so erzählten die beiden Freunde einander, der eine vom Zechen und Schmausen der Husaren und dem Leben im Feld, der andere von den Vorteilen und Annehmlichkeiten im Dienst unter dem Kommando hochstehender Persönlichkeiten.

»O diese Garde!« sagte Rostow. »Aber weißt du, du könntest eigentlich Wein kommen lassen.«

Boris wurde finster.

»Wenn du es durchaus willst«, sagte er.

Und er ging ans Bett, zog unter dem sauberen Kopfkissen seinen Geldbeutel hervor und befahl, Wein zu bringen.

»Und nun will ich dir den Brief und das Geld geben«, fügte er hinzu.

Rostow nahm den Brief, warf das Geld aufs Sofa, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und fing an zu lesen. Er las ein paar Zeilen und sah dann Berg ärgerlich an. Ihre Blicke trafen sich, und Rostow versteckte sein Gesicht hinter dem Brief.

»Man hat Ihnen wenigstens eine anständige Summe Geld geschickt«, sagte Berg und warf einen Blick auf den schweren Geldbeutel, der das Sofa ganz niedergedrückt hatte. »Wir müssen uns mit unserem Gehalt durchschlagen, Graf. Ich, zum Beispiel, sage ich Ihnen …«

»Sehen Sie, mein lieber Berg«, sagte Rostow, »wenn Sie einen Brief von zu Hause bekämen und mit einem Menschen zusammenträfen, den sie über mancherlei ausfragen möchten, und ich wäre dabei, so würde ich augenblicklich fortgehen, um nicht zu stören. Hören Sie, gehen Sie, gehen Sie, ich bitte darum, irgendwohin, wohin Sie wollen … zum Teufel meinetwegen!« rief er, fügte aber sogleich, indem er ihn an der Schulter packte und ihm freundlich ins Gesicht sah, hinzu, sichtlich bemüht, die Grobheit seiner Worte zu mildern: »Seien Sie mir nicht böse, Liebster, Bester, Sie wissen ja, daß ich Ihnen als altem Bekannten gegenüber frei von der Leber weg rede.«

»Aber ich bitte Sie, Graf, das verstehe ich sehr wohl«, sagte Berg mit seiner schnarrenden Stimme und stand auf.

»Gehen Sie zu den Wirtsleuten, sie haben gerufen«, fügte Boris hinzu.

Berg zog seinen tadellosen Rock, an dem weder ein Flecken noch ein Stäubchen zu sehen war, über, strich sich vor dem Spiegel die Haare an den Schläfen nach oben, wie Kaiser Alexander Pawlowitsch sie trug, entnahm aus Rostows Blicken, daß dieser seinem Anzug genügend Beachtung geschenkt hatte, und verließ mit liebenswürdigem Lächeln das Zimmer.

»Ach, was bin ich doch für ein Rindvieh!« murmelte Rostow, während er den Brief las.