»Höchstwahrscheinlich rücken wir vor«, erwiderte Bolkonskij mit dem unverkennbaren Wunsch, vor Fremden nicht mehr zu sagen.
Berg benutzte die Gelegenheit, um mit der ihm eigenen Höflichkeit zu fragen, ob das Gerücht, daß die Kompanieführer bei der Linie jetzt doppelte Fouragegelder beziehen sollten, wahr sei. Fürst Andrej erwiderte darauf lächelnd, daß er über so wichtige Staatserlasse nicht orientiert sei, worauf Berg in ein fröhliches Lachen ausbrach.
»Was Ihre Angelegenheit anbetrifft«, wandte sich Fürst Andrej wieder an Boris, »so wollen wir später davon reden.« Er warf einen Blick auf Rostow. »Kommen Sie nach der Besichtigung zu mir, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Er sah sich im Zimmer um, wandte sich dann an Rostow, dessen kindliche, unüberwindliche Verlegenheit, die in Wut überging, er nicht einmal zu beachten der Mühe für wert hielt, und sagte: »Sie erzählen anscheinend soeben von Schöngrabern. Sind Sie dabei gewesen?«
»Ja, ich bin dabei gewesen«, entgegnete Rostow erbost, wie um den Adjutanten dadurch zu kränken.
Bolkonskij bemerkte die Gemütsverfassung des Husaren und schien sich daran zu ergötzen. Ein etwas geringschätziges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ja, darüber werden jetzt viele Histörchen erzählt!«
»Ja, Histörchen«, wiederholte Rostow laut und richtete seine zornfunkelnden Augen bald auf Boris, bald auf Bolkonskij, »jawohl, Histörchen! Aber was wir erzählen, wir, die wir selber im feindlichen Feuer gestanden haben, das hat etwas zu bedeuten und ist nicht so wie das, was solche Grünschnäbel vom Stabe da zusammenschwatzen, die Auszeichnungen erhalten, ohne etwas geleistet zu haben.«
»Und zu denen, wie Sie wahrscheinlich annehmen, wohl auch ich gehöre«, fügte Fürst Andrej ruhig hinzu und lächelte dabei ganz besonders liebenswürdig.
Ein sonderbares Gefühl der Wut, gemischt mit einer gewissen Achtung vor der Ruhe dieses Menschen, regte sich plötzlich in Rostows Brust.
»Ich spreche nicht von Ihnen«, sagte er. »Ich kenne Sie nicht und muß gestehen, daß ich auch gar kein Verlangen danach habe, Sie kennen zu lernen. Ich spreche vom Stab im allgemeinen …«
»Ich will Ihnen mal was sagen«, unterbrach ihn Fürst Andrej in ruhig überlegenem Ton. »Sie wollen mich beleidigen, und ich gebe Ihnen gern zu, daß das etwas sehr Einfaches ist, wenn Sie nicht genügend Achtung vor sich selber besitzen. Aber Sie müssen doch einsehen, daß sowohl der Augenblick als auch der Ort nicht ganz passend dazu gewählt ist. Uns allen steht in diesen Tagen ein großes, ernsthaftes Duell bevor, und außerdem kann doch Drubezkoj, der behauptet, daß Sie ein alter Freund von ihm seien, wirklich nichts dafür, daß mein Gesicht das Pech hat, Ihnen zu mißfallen. Übrigens«, sagte er und stand auf, »kennen Sie ja meinen Namen und wissen, wo Sie mich finden können. Vergessen Sie aber nicht«, fügte er hinzu, »daß ich weder mich noch Sie für beleidigt halte und Ihnen als der Ältere den Rat gebe, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Also ich erwarte Sie am Freitag nach der Besichtigung, Drubezkoj, auf Wiedersehen!« rief Fürst Andrej und ging hinaus, nachdem er sich vor den beiden anderen verbeugt hatte.
Erst als Bolkonskij schon draußen war, fiel Rostow ein, was er ihm hätte antworten müssen. Und nun ärgerte er sich um so mehr, daß er nicht früher darauf gekommen war. Er ließ sich sogleich sein Pferd bringen, nahm trocken von Boris Abschied und ritt nach seinem Quartier. Sollte er morgen ins Hauptquartier reiten und diesen großschnäuzigen Adjutanten fordern oder die Sache wirklich auf sich beruhen lassen? Diese Frage quälte ihn während des ganzen Weges. Bald dachte er voller Wut daran, mit welchem Genuß er die Angst dieses kleinen, schwächlichen und stolzen Menschen vor seiner Pistole auskosten wollte, bald fühlte er zu seinem Erstaunen, daß von allen Leuten, die er kannte, er sich keinen so sehr zum Freund gewünscht hätte wie diesen verhaßten Adjutanten.
8
Am Tag nach dem Wiedersehen zwischen Boris und Rostow fand die Besichtigung der österreichischen und russischen Armee statt, an der nicht nur die frischen, soeben aus Rußland eingetroffenen Truppen, sondern auch die unter Kutusows Kommando aus dem Felde zurückgekehrten teilnahmen. Die beiden Kaiser, der russische, gefolgt vom Thronfolger, und der österreichische, gefolgt vom Erzherzog, besichtigten die achtzigtausend Mann starke verbündete Armee.
Am frühen Morgen fingen die tadellos gesäuberten und geputzten Truppen an, aufzumarschieren und sich auf dem Feld vor der Festung in Reih und Glied aufzustellen. Tausende von Beinen, Bajonetten und wehenden Fahnen waren in Bewegung, machten auf das Kommando der Offiziere halt, gingen um ähnliche Infanteriemassen in anderen Uniformen herum, machten kehrt und stellten sich in regelmäßigen Abständen auf. Dort sprengte unter gleichmäßigem Getrappel und Gestampfe die schmucke Kavallerie in blauen, roten und grünen Uniformen mit ihrer Musik in buntgestickten Röcken auf Rappen, Füchsen und Schimmeln vor. Dort kroch die Artillerie in langem Zug unter dem dumpfen Dröhnen des Metalls ihrer blankgeputzten, glänzenden, auf den Lafetten hin und her gerüttelten Kanonen und ihrem Luntegeruch zwischen Infanterie und Kavallerie durch und nahm auf dem ihr angewiesenen Platz Aufstellung. Nicht nur die Generäle in voller Paradeuniform, die dicken oder dünnen Taillen so eng wie möglich zusammengeschnürt, die roten Hälse in hohe Kragen eingezwängt, mit Schärpen und zahlreichen Orden, nicht nur die pomadisierten, eleganten Offiziere, nein, auch jeder Soldat mit seinem frischgewaschenen, sauber rasierten Gesicht und seiner bis zum letzten Grad der Möglichkeit blankgewichsten Montur und sogar jedes Pferd, so sorgsam geputzt, daß das Fell wie Atlas glänzte und in der mit Wasser gekämmten Mähne ein Haar neben dem anderen lag – sie alle fühlten, daß etwas Ernstes, Bedeutsames und Feierliches bevorstand. Ob General oder Soldat, jeder war sich in diesem Augenblick seiner Nichtigkeit bewußt, wenn er daran dachte, daß er in diesem Menschenmeere nichts weiter als ein Sandkörnchen sei; jeder fühlte aber auch gleichzeitig seine Macht bei dem Gedanken, daß auch er ein Teil dieses gewaltigen Ganzen war.
Vom frühen Morgen an hatte dieses geschäftige Leben und Treiben begonnen, und um zehn Uhr war die gewünschte Ordnung hergestellt. Alles stand in Reih und Glied auf dem gewaltigen Platze. Die ganze Streitmacht war in drei Gruppen geteilt: vorn die Kavallerie, dahinter die Artillerie und ganz hinten die Infanterie. Zwischen den Truppengattungen waren breite Durchgangsstraßen freigelassen.
Drei Gruppen dieser großen gemeinsamen Armee unterschieden sich scharf voneinander: die Armee Kutusows – dort standen am rechten Flügel in der ersten Reihe die Pawlograder –, dann die soeben aus Rußland eingetroffenen Linien- und Garderegimenter und schließlich das österreichische Heer. Aber sie standen alle in einer Linie, unter einem Oberkommando, zusammen in Reih und Glied.
Plötzlich ging ein erregtes Flüstern durch alle Reihen, wie der Wind durch die Blätter der Bäume: »Sie kommen, sie kommen!« Hier und da hörte man noch einen erschrockenen Zuruf, und eine Welle der Unruhe und der letzten Vorbereitungen wogte durch das Heer.