Die Höhle, die sich hinter dem Schreibtisch ins dichte Dunkel grub, war nicht sichtbar, bis auf ihre Ausmündung, worin es von weichem, flaumleichtem, aufstiebendem Lurch wimmelte. „Lurch“ — so hießen die mausgrauen Knäuel, die Bäuschchen aus spinnwebfeinem Schmutz, die unter alten Schränken wuchern, sich in den Innereien der Sofas vermehren, verfilzt, samtig, durchsättigt von Staub.
Ohne Eile schickte er sich an, den Inhalt des eroberten Winkels zu untersuchen. — Was kann dort stecken? Er selbst fühlte sich wohl, obzwar er sich nicht erinnerte, warum er den Schreibtisch weggerückt hatte. Schmutzwäsche und Zeitungen lagen jetzt mitten im Zimmer; beim Schreibtischverschieben mußte er sie durch einen besinnungslosen Fußtritt dort hinüberbugsiert haben. Aus dem Sitzen verlagerte er sich nun auf alle viere, schob langsam den Kopf ins Halbdunkel vor, schirmte mit dem Körper das letzte bißchen Licht ab, sah überhaupt nichts mehr, sog Staub in die Nasenlöcher ein und nieste nochmals los, aber diesmal mit Erbitterung.
Dann zog er sich zurück, schneuzte sich lang, beschloß, den Schreibtisch so weit wegzurücken wie noch nie, tastete also die Rückwand ab, die warnend knackte, zielte dann, bückte sich und schob — und unvermutet leicht fuhr der Schreibtisch fast bis zur Mitte des Zimmers und warf dabei den Nachttisch um. Der Teekessel fiel herunter, und der Tee rann aus. Er aber versetzte dem Kessel einen Tritt. Kehrte dann zurück in die Mitte der offengelegten Schatzkammer. Bei jeder kleinsten Bewegung erhoben sich üppige Staubwolken von den kaum sichtbaren Parkettbrettchen, auf denen irgendwelche undeutliche Gebilde herumlagen. Er holte die Lampe, stellte sie neben sich auf den Waschtisch, schloß sie an den Stecker an und wandte sich um. Wo der Schreibtisch die Wand verdeckt hatte, war sie ganz mit Spinnwebstreifen bewachsen, die dunkle, stellenweise schnurdicke Geflechte bildeten. Aus einer vergilbten Zeitung drehte er sich einen Wedel zurecht und begann damit alles, was ihm unterkam, auf einen Haufen zu schaufeln, arbeitete mit angehaltenem Atem, in Staubschwaden, tief gebückt, und fand einen Ring von der Gardine, einen Haken, ein Stück eines Gürtels, eine Schnalle, verknittertes, aber ungebrauchtes Briefpapier, eine Streichholzschachtel und eine angeschmolzene Stange Siegellack; nun verblieb nur noch dicht an der Wand die Ecke zwischen den Fußbodenleisten, sie schien mit graustichigem Pelzhaar bedeckt, mit verfilzten Abfällen; unruhig stipste er das mit der Pantoffelspitze — und erschrak fast bis zur Verzückung: aus dem Loch im Pantoffel ragte ihm die große Zehe heraus, und gegen diese Zehe prallte etwas Kleines, Elastisches, er begann das zu suchen, aber er fand nichts.
* Es war nur Einbildung — dachte er.
Er schob einen Stuhl zum Schreibtisch, nicht den einen, dem ein Bein fehlte — den rückte er lieber nicht von der Stelle, sondern den zweiten, auf dem die Waschschüssel stand. Die stieß er hinunter, daß sie gellend klapperte; er lächelte, setzte sich und begann, die hinter dem Schreibtisch gefundenen Sachen zu untersuchen.
Vorsichtig blies er das graue Staubpulver weg. Das Messingringlein glänzte wie golden, er versuchte, es an den Finger zu stecken — zu groß. Den rostigen, gebogenen Haken, an dessen Spitze ein Mörtelklumpen haftete, hielt er sich dicht vor die Nase. Der Haken hatte die Ausdruckskraft eines Gegenstandes, der viel mitgemacht hat; oben war er abgeplattet, sichtlich hatte sich einst leidenschaftliche Wut daran ausgetobt; in den Hiebkerben an den Seiten waren winzige Eisenspäne ausgefranst, nun schon rostzerfressen und bei festerer Berührung zerbröckelnd. Die knollig abgestumpfte Spitze war sichtlich im Mauerwerk auf einen harten Gegner getroffen; so samt der Wurzel aus ihrer Höhlung gerissen, erinnerte sie den Betrachter an einen Zahn, und fürsorglich berührte er den einsam aus dem Zahnfleisch ragenden Stummel, wie um durch diese Bewegung dem Haken Mitgefühl kundzutun.
Er warf die übrigen gefundenen Sachen in die Schublade, drehte den Lampenschirm schräg, neigte sich über den Schreibtisch und schaute hinunter auf den Fußboden. Im gelben Lampenlicht starrte schwarz der abscheuliche Zottelpelz der Wand, und von den Schreibtischbrettern weg zogen sich schläfrig flatternde, funkelnde, zerrissene Spinnwebfäden. Auf dem Parkett in der Mitte lag, von Staub verschüttet, ein Umschlag von einem alten Brief, die Adressenseite mit der Marke nach oben; darunter aber steckte etwas, was den Rand leicht anhob. Etwas Kleines. Wie eine Nuß.
* Eine Maus! — Kaum hatte er das gedacht, und der Ekel würgte ihn schon an der Gurgel. Mit angehaltenem Atem, und ohne hinzuschauen, begann er den bronzenen Briefbeschwerer heranzuziehen, der schwer war wie ein Stück Eisen. Das Herz erstarrte in der Erwartung, es könnte zu spät sein, jeden Moment könnte eine grauenvolle Flucht als widerwärtiger grauer Spritzer unter dem Kuvert hervorstieben. Doch nichts geschah. Das Kuvert ruhte weiterhin leicht angehoben, die Lampe beleuchtete es, und nur die Spinnweben zitterten unablässig von eigenem regelmäßigem Leben. Er neigte sich noch weiter vor; schon platt auf dem Schreibtisch liegend, ließ er mit Schwung die Bronze fallen. Sie schlug weich auf das Kuvert auf, so, als drückte sie einen elastischen Gegenstand nieder, dann schwankte sie und platschte dumpf in einer grauen Staubwolke aufs Parkett.
Nun übermannte ihn die reinste Raserei von Ekel und Verzweiflung; ohne Besinnung, ohne Berechnung begann er alles auf das Kuvert hinabzuwerfen, was sich in Reichweite vorfand: die dicken Bände der Deutschen Geschichte, die Wörterbücher, eine leere, mit silbrigem Blech überzogene Tabakpackung — bis unter den träge flatternden Spinnwebfäden ein wirrer Stapel entstanden war. Doch auf dem Grund dieses Stapels erahnte er immer noch auf unfaßliche Weise aus den Aufprallgeräuschen diese unbezwingliche, lebendige, sich verteidigende Elastizität.
Beunruhigt bis zum Paroxysmus (denn instinktiv fühlte er: wenn er das nicht erschlüge, müßte sich dies rächen), schleppte er, vor Anstrengung stöhnend, die breite gußeiserne Aschenlade herbei, stieß mit dem Fuß den Bücherstapel weg und schleuderte sie mit übermenschlichem Kraftaufwand auf das aufgebauschte Eckchen Papier.
Da fühlte er, wie ihm etwas wie von ungefähr über die Beine schnalzte, die gleiche lebendige, warme Berührung, wie vorhin, und mit einem verstörten Schrei, der ihm die Kehle zersprengte, stürzte er blindlings zur Tür.
In der Diele war es weit heller als im Zimmer. Er hielt sich krampfhaft an der Klinke fest. Kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Maß mit den Blicken die aufgeklinkte Tür. Sammelte seine Kräfte für die Rückkehr in die Wohnung. Da erschien das schwarze Pünktchen.
Er bemerkte es erst, als er darauftrat. Es war kleiner als ein Stecknadelkopf; wie ein Körnchen sah es aus, als trüge ein träger Lufthauch dicht über dem Fußboden ein Krümelchen Staub oder Ruß mit sich fort. Die Fußsohle berührte die Bretter nicht; sie rutschte ab, oder eigentlich rollte sie ab, schien auf ein unsichtbares, federndes Bällchen zu treffen, das gleich zur Seite sprang. Er verlor das Gleichgewicht, hopste verzweifelt und fiel gegen die Tür. Stieß sich schmerzhaft den Ellbogen an. Rappelte sich auf. Schluchzte vor Aufregung.
„Ist ja nichts, mein Lieber, ist ja gut“ — brummte er, als er von den Knien aufstand. Er zischte, versuchte das Bein zu regen — es war noch ganz. Er stand nun vor der Schwelle, mit verzweifelten Blicken überflog er die Umgebung. Und dicht über dem Fußboden, vor dem Hintergrund der aufgeklinkten Gartentür mit dem gleichmäßigen Regenrieseln dahinter, da gewahrte er auf einmal ein schwarzes Pünktchen. In der Ecke zwischen der Haustürschwelle und einer Ritze in den Brettern zitterte es sacht und kam allmählich zur Ruhe. Er bückte sich danach immer tiefer und stand schließlich da, wie mittendurch geknickt. Er schaute und schaute auf das schwarze Pünktchen, das ihm aus der Nähe ein wenig länglich vorkam.