* Eine Spinne auf so dünnen Beinchen, daß ich sie nicht sehen kann — folgerte er. Der Gedanke, was für fadenartige Beine das Geschöpf haben mußte, erfüllte ihn mit flauer Ungewißheit. Er förderte das Schnupftuch aus der Hosentasche zutage und hielt reglos inne. Er faltete es auf der flachen Hand zu einer Falle zusammen und zog unschlüssig die Hand zurück. Endlich senkte er das Tuch mit lose herabhängenden Zipfeln und näherte es der schwarzen Spinne. — Sie wird erschrecken und davonlaufen — dachte er. — Dann ist Ruhe.
Das schwarze Pünktchen huschte nicht fort. Die Tuchzipfel erreichten es nicht, fingerbreit darüber bogen sie sich um, als stießen sie auf ein sinnlich nicht wahrnehmbares Hindernis. Er fuchtelte mit dem Endchen Stoff, es faltete und warf sich kraftlos, schließlich wurde er dreister (vor der eigenen Tatkraft verschlug es ihm den Atem), und mit dem Schlüssel, den er schnell aus der Tasche zog, stach er auf das schwarze Pünktchen ein.
Er fühlte, wie seiner Hand der gleiche elastische Widerstand wie vorher begegnete, der Schlüssel krümmte sich ihm zwischen den Fingern, und das schwarze Pünktchen schoß dicht vor ihm in die Höhe, hüpfte nervös in senkrechten, erlöschenden, immer niedrigeren Sätzen und erstarrte schließlich wieder in der Ecke zwischen Schwelle und Fußbodenbrett. Er fand nicht Zeit, richtig zu erschrecken, so schnell spielte sich das ab.
Langsam, mit eingekniffenen Augenlidern, wie vor einer Pfanne mit hochbrutzelndem Speck, bedeckte er das schwarze Pünktchen mit dem flach ausgebreiteten Schnupftuch. Es senkte sich leicht und bauchte sich aus, als liege darunter ein Pingpongbällchen. Er hob die Zipfel, brachte sie einander listig näher und schlang plötzlich alle ineinander, — die kugelige Form war gefangen. Er stupste sie zuerst mit dem Schlüssel, dann mit dem Finger. Sie war wirklich elastisch, unter Druck federte sie, aber je fester sie zusammengepreßt wurde, um so merklicher wuchs ihre Gegenwehr. Die Sache war leicht, das Tuch wog nicht mehr als ein leeres, zumindest war der Unterschied für ihn nicht spürbar. Er richtete sich auf den eingeschlafenen Beinen auf, stützte sich mit der freien Hand an der Wand ab und hinkte ins Zimmer.
Das Herz schlug ihm heftig, als er das verknotete Tuch unter die Lampe auf die Schreibtischplatte legte, die er vorher von allem Gerümpel gereinigt hatte. Er machte Licht und suchte die Brille; nach einigem Nachdenken scheute er keine Mühe, und schon in der zweiten durchstöberten Schublade fand er die Lupe, ein tassengroßes Vergrößerungsglas in brünierter schwarzer Fassung mit Holzgriff. Er zog sich den Stuhl heran, die aufgeschlagenen und wirr herumliegenden Bände aus dem Durchgang zur Seite schiebend, und begann vorsichtig, das Schnupftuch aufzuknüpfen. Nochmals unterbrach er sein Tun, stand auf, fand in dem Gerümpel beim Fenster die Käseglocke, die trotz dieses Sprungs auf der einen Seite als Ganzes noch dichthielt, und stülpte sie über das Tuch, nur die Zipfel ließ er herausragen, er zog daran, und es entfaltete sich langsam, ganz voll Flecken und Rotzspuren. Er sah nichts. Er rückte mit dem Kopf immer näher, bis die Nase ans kalte Glas der Glocke stieß. Er schauderte bei dieser unvermuteten Berührung.
Das schwarze Pünktchen zeigte sich erst unter der Lupe. Vergrößert sah es wie ein winziges Getreidekorn aus. Es hatte eine hellere graustichige Ausbauchung am einen Ende, und am anderen zwei ganz feine, selbst durch die Lupe kaum wahrnehmbare grüne Tupfen. Er war nicht sicher, ob ihnen nicht das dicke Glas der Käseglocke, worin sich das Licht brach, diese Tönung verlieh. Er zog sacht an den Zipfeln und förderte das ganze Tuch unter der Käseglocke zutage. Dies dauerte wohl eine Minute. Und dann verfiel er auf eine bestimmte Idee. Er verschob die Glocke längs der Tischplatte. bis die gläserne Umrandung über die Schreibtischkante vorstand, und hielt mittels eines langen Drahtstücks ein vorbereitetes Streichholz hinein, nachdem er es im letzten Augenblick an der Schachtel gerieben hatte.
Ein Weilchen sah die Sache so aus, als wollte das Streichholz erlöschen; dann, als es stärker aufflammte, vermochte er es nicht in die richtige Richtung zu manövrieren; endlich gelang auch dies. Die gelbliche Flamme näherte sich dem schwarzen Pünktchen, das zwei Zentimeter über der Tischfläche schwebte, und begann plötzlich unruhig zu flackern. Er brachte die Flamme noch ein klein wenig näher, und sie krümmte sich, als schmiegte sie sich um eine unsichtbare Rundung, verblieb kurze Zeit so, sprühte ein letztes bläuliches Fünkchen und erlosch; nur das verkohlte Holz glomm noch eine Weile.
Er atmete auf, schob die Glocke wiederum unter den Lampenschirm und starrte lange Zeit reglos auf das schwarze Pünktchen, das sich im Inneren der Glocke um ein geringes bewegte.
„Ein unsichtbares Kugerl“ — murmelte er. „Ein unsichtbares Kugerl.“
Er war fast glücklich, ohne es zu wissen. Die nächste Stunde verbrachte er damit, eine Untertasse voll Tinte unter die Käseglocke zu bringen. Ein ganzes System von Stäbchen und Drähten erwies sich als unerläßlich, um das untersuchte Gebilde im Bereich des Schüsselchens zu halten. An der Oberfläche der Tintenpfütze entstand an einer Stelle eine kaum merkliche Vertiefung, dort, wo offensichtlich die untere Wölbung der Kugel auftrat. Sonst geschah nichts. Alle Versuche, sie mit Tinte zu bemalen, schlugen fehl. Zu Mittag spürte er lästiges Saugen im Magen, er aß also die restliche Hafersuppe und die letzten zerbröckelten Kekse, die sich im Leinensäckchen fanden. Dazu trank er Tee. Wieder beim Schreibtisch angelangt, konnte er das schwarze Pünktchen nicht sofort wiederfinden und empfand heftige Angst. Er vergaß alle Vorsicht, hob die Glocke und tastete fieberhaft mit ausgebreiteten Armen die Schreibtischplatte ab wie ein Blinder. Auf einmal schmiegte sich ihm die kugelige Form ruhig zwischen die Finger. Fest schloß er die Hand, und so blieb er sitzen, beruhigt, voll Dankbarkeit, und murmelte leise vor sich hin. Seine Hand wurde warm von der unsichtbaren Kugel. Er spürte die Wärme, die ihr entströmte, er spielte immer kühner mit der gewichtslosen Form, rollte sie von einer Hand in die andere, und dann blieb sein Blick an etwas haften, was im Staub beim Ofen glitzerte — denn dort ergoß sich der Müll aus dem umgeworfenen Eimer. Es handelte sich um ein zerknülltes Blatt Stanniol von einer Tafel Schokolade.
Sofort machte er sich daran, die Kugel in die Folie zu wickeln. Das ging unverhofft leicht. Er beließ nur an zwei entgegengesetzten Punkten kleine, mit einer Stecknadel hergestellte Öffnungen, so daß er gegen das Licht nachprüfen konnte, ob sein winziger schwarzer Gefangener in der Mitte wirklich noch bei ihm sei.
Als er endlich aus dem Haus gehen mußte, um sich etwas zu essen zu kaufen, schloß er die Kugel unter der Käseglocke ein, und um schon ganz gewiß zu sein, beschwerte er sie noch und umbaute sie von allen Seiten mit Büchern.
Von nun an folgten herrliche Tage. Dann und wann versuchte er allerlei Experimente mit der Kugel, aber meist lag er im Bett und las seine Lieblingsstellen in alten Büchern. Unter der Decke zusammengeringelt, speicherte er die Wärme, so gut er konnte, streckte die Hand nur hervor, um umzublättern, und solchermaßen vertieft in die genauen Berichte über den Tod der Gefährten Amundsens im Eis oder in die düsteren Bekenntnisse Nobiles über Fälle von Kannibalismus nach der Katastrophe seiner polnahen Expedition, blickte er bisweilen zu der Käseglocke hinüber, worin die Kugel ruhig unter dem Glas glitzerte und ab und zu ein wenig die Stellung änderte, sich sacht von einer Glaswand zur anderen verlagerte, wie von einer unsichtbaren Kraft angestoßen.
Er hatte keine Lust, sich zu Mittag etwas Warmes einzukaufen oder zu kochen, also stopfte er sich mit Keksen voll, und wenn er ein wenig Holz hatte, röstete er sich Kartoffeln in der Aschenlade; abends tauchte er die Kugel in Wasser oder versuchte sie mit spitzen Gegenständen zu stechen; er schnitt daran sein Rasiermesser schartig, im übrigen ohne sichtbares Resultat. Und all dies dauerte so lang, bis an dieser Ruhe langsam etwas faul wurde. Er plante etwas Großes: den alten Schraubstock im Keller wollte er herauszerren, die Kugel in die Klemme nehmen und zusammendrücken, bis er an das schwarze Pünktchen in der Mitte gelangte; aber dies war mit so großen Beschwerlichkeiten verbunden (er hätte weiß Gott wie lang in altem Gerümpel und Eisenzeug wühlen müssen, und obendrein war er nicht sicher, ob er den Schraubstock würde schleppen können, den er vor drei Jahren hinuntergetragen hatte), so daß diese Idee im Reiche der Pläne verblieb.