Einmal erhitzte er die Kugel lang über dem Feuer, mit dem Ergebnis, daß er die Bodenfläche eines noch recht guten Kochgeschirrs durchbrannte. Das Stanniol dunkelte nach und vergloste, aber die Kugel selbst trug keinerlei Schäden davon. Er wurde allmählich ungeduldig, allerlei starke Mittel kamen ihm in den Sinn, denn er empfand immer festere Gewißheit, die Kugel sei unzerstörbar, und diese ihre Widerstandsfähigkeit stärkte seine Befriedigung. Eines Tages jedoch bemerkte er etwas, was ihm eigentlich schon weit früher hätte auffallen müssen.
Das Stanniol (ein neues Blatt, denn das alte war im Lauf der mannigfaltigen Experimente in Fetzen zerrissen) zerplatzte an mehreren Stellen zugleich, und in den Durchblicken zeigte sich das Innere. Die Kugel wuchs! Er erbebte ganz und gar, als er dies endlich begriff. Er hielt sie unter die Lupe, betrachtete lang das entblößte Innere, untersuchte es durch die doppelten Gläser, die er aus der untersten Schreibtischlade hatte ausgraben müssen, und war zuletzt sicher, daß er sich nicht getäuscht hatte.
Die Kugel wuchs nicht nur, sie änderte auch ihre Form. Sie war nicht mehr vollkommen rund, zwei sanfte Ausbauchungen schienen daran auf, etwas wie Pole, und das schwarze Pünktchen verlängerte sich so, daß sich dies nun sogar mit freiem Auge erkennen ließ. Hinter dem gekerbten Köpfchen, bei dem grünlichen Tupfenpaar, enchien eine schwach glitzernde Linie. Sie sproß langsam weiter, diese Bewegung war schwerer wahrzunehmen, als das Weiterrücken des Stundenzeigers einer Uhr, aber als die Nacht um war, konnte der Beobachter außer Zweifel feststellen, daß das Phänomen vorangeschritten war. Die Kugel war schon länglich, wie ein Ei mit zwei gleich dicken Enden. Das schwarze Pünktchen in der Mitte war deutlich angeschwollen.
In der nächsten Nacht weckte ihn ein kurzer, aber gewaltiger Klang, so, als wäre bei großer Kälte plötzlich eine massive Glasplatte zersprungen. Er klang ihm noch in den Ohren, als er aufsprang und barfuß zum Schreibtisch lief. Dort blendete ihn das Licht, er stand da, hielt die Hand vor die Augen und wartete verzweifelt, bis er etwas sah. Die Käseglocke war ganz. Scheinbar hatte sich darunter nichts geändert. Er suchte mit den Blicken das langgezogene schwarze Fädchen und fand es nicht. Als er es entdeckte, erstarb alles in ihm: so sehr war es geschrumpft. Er hob erschrocken die Glocke; und an den Handrücken schmiegte sich ihm etwas an. Tief gebückt näherte er das Gesicht der leeren Tischplatte, und schließlich sah er alles: Es waren zwei — beide erhitzt, als hätte man sie soeben aus heißem Wasser herausgenommen. In jeder saß ein winzig kleiner Kern, ein mattschwarzes Pünktchen. Ihn aber überkam unerklärliche Seligkeit, Ergriffenheit. Er zitterte nicht vor Kälte, sondern vor Erregung. Er legte beide auf die Hand, sie waren warm wie Kücken, er behauchte sie, ganz sacht, um die fast schwerelosen Körper nicht auf den Fußboden hinabzublasen, dann wickelte er jede Kugel sorgfältig in ein Blatt Stanniol und deckte die Käseglocke über beide. Lang stand er davor und suchte inbrünstig zu ergründen, was er noch für sie tun könnte, endlich kehrte er ins Bett zurück, mit heftig klopfendem Herzen, ein wenig bekümmert über die eigene Machtlosigkeit, aber ruhig und fast bis zu Tränen gerührt.
„Meine Kleinen…“— murmelte er und sank in süßen kraftspendenden Schlaf.
Nach einem Monat konnte die Käseglocke die Kugeln nicht mehr fassen. Nach einem weiteren Monat verlor er die Übersicht, er konnte sie nicht mehr zählen. Kaum hatten die schwarzen Kerne die üblichen Ausmaße erreicht, da begannen den Kugeln schon die Pole zu schwellen. Nur einmal gelang es ihm, im Augenblick der Teilung wach zu sein, die immer nachts erfolgte. Der Klang, der unter der Käseglocke hervordrang, betäubte ihn für lange Minuten, aber in noch größere Verblüffung versetzte ihn ein Aufblitzen, das einen Moment lang das ganze Zimmer aus der Dunkelheit auftauchen ließ, wie im Strahl eines winzigen Blitzes. Von alldem, was vorging, verstand der Beobachter nichts, aber durch das Bett hindurch spürte er, daß einen Moment lang der Fußboden erbebte, und durch Mark und Bein drang das Bewußtsein, daß dieses wuchernde Kleinzeug etwas unendlich Gewaltiges sei. Ein ähnliches Gefühl kam auf, wie angesichts eines überwältigenden Naturereignisses, so, als öffnete sich für eine Sekunde der Abgrund eines Wasserfalls, oder als ließe sich ein Erdbeben spüren; in diesem klirrenden momentanen Schnappen, dessen Echo die Hauswände noch einzusaugen schienen, hatte sich einen Sekundenbruchteil lang eine Kraft aufgetan und wieder verschlossen, die mit nichts zu vergleichen war. Die Angst währte nur kurz — am Morgen hielt er sie für ein Traumgespinst. In der nächsten Nacht suchte er im Dunkeln zu wachen. Und zugleich mit der Welle der Erschütterung und dem dunklen Klang gewahrte er nun erstmals genau die zickzackförmige Strahlung, die das aufgequollene Ei entzweischnitt und so jäh verschwand, daß er nachher nicht wußte, ob er sich nicht etwa bloß getäuscht hatte.
Nicht einmal an den Schnee dieses Winters erinnerte er sich, so selten ging er aus, nur den kleinen Kaufladen hinter der Straßenbiegung mußte er doch manchmal aufsuchen. Im beginnenden Vorfrühling wimmelte das Zimmer von Kugeln, die er gar nicht alle einkleiden konnte: woher hätte er so viel Stanniol nehmen sollen? Überall trieben sie sich herum, mit den Füßen stupste er sie fortwährend, lautlos fielen sie vom Bücherregal, gerade auf den Fächern dort waren sie am besten zu sehen, durch das lange Liegen waren sie mit einer zarten Staubschicht überzuckert, die als feine matte Haut die Rundungen nachzeichnete.
Die stets neuen Abenteuer (er fischte Kugeln aus der Hafersuppe, aus der Milch, im Zuckersäckchen fand er welche, unsichtbar rollten sie aus den Gefäßen, wurden mit der Suppe gekocht), dieser Überfluß, der ihn umgab, begann ihn mit neuen Einfällen und mit leichter Unruhe zu erfüllen.
Der so unbändig anwachsende Schwarm kümmerte sich wenig um ihn. Er zitterte: irgendeine könnte in die Diele entwischen, und dann weiter, in den Garten, auf die Straße, wo Kinder sie finden könnten. Also stellte er ein ausreichend engmaschiges Drahtgitter vor die Schwelle, und mit der Zeit wurde das Ausgehen zu einer ganzen komplizierten Zeremonie: er durchstöberte der Reihe nach alle Taschen, schaute in den Hosenumschlägen nach, klopfte alles sicherheitshalber noch ein paarmal aus, öffnete und schloß die Tür nur langsam, damit die entstehende Zugluft nicht unversehens eine Kugel entführte, und je mehr es davon gab, um so stärker komplizierte sich alles.
Nur eine echte und große Unannehmlichkeit litt er durch dieses Zusammenleben voll vielfältiger Emotionen: es waren schon so viele Kugeln, daß sie sich fast unausgesetzt vermehrten, und der gewaltige klirrende Klang erscholl manchmal fünf— oder sechsmal in einer Stunde. Er weckte ihn nachts, daher begann er den Schlaf bei Tag nachzuholen, wenn Stille herrschte. Manchmal erfaßte ihn undeutliche Unruhe angesichts dieser Welle unerschütterlicher regelmäßiger Fortpflanzung, das Gehen wurde immer schwieriger, auf Schritt und Tritt entwichen unter den Sohlen hervor die unsichtbaren federnden Bällchen, verstreuten sich nach allen Seiten, und er erkannte, er werde demnächst in ihnen waten müssen wie in tiefem Wasser. Wovon sie lebten, wovon sie sich ernährten, — darüber dachte er nicht nach.
Trotz des kalten Vorfrühlings mit häufigen Frost— und Schneeschauern heizte er längst nicht mehr. Das Kugelgewimmel spendete seine gleichmäßige Wärme der Umgebung. Noch nie war es im Zimmer so warm, so heimelig gewesen wie jetzt, da der Staub von spaßigen Sprungspuren und Wälzspuren wimmelte, als hätten da vor kurzem junge Kätzchen gespielt.