Je mehr Kugeln da waren, um so leichter gaben sie ihre Gebräuche zu erkennen. Man hätte meinen können, daß sie einander nicht mochten oder jedenfalls allzu nahe Nachbarschaft von ihresgleichen nicht duldeten. Denn bei jeder Annäherung verblieb zwischen ihnen eine dünne Luftschicht, die sich selbst bei beträchtlicher Kraftanwendung nicht wegdrücken ließ. Das sah er am besten, wenn er zwei in Stanniol gewickelte einander näherte. Mit der Zeit begann er die Überfülle wegzuräumen: er warf sie in die Blechwanne, und dort lagen sie nun unter einem Staubfilm wie ein Haufen von grobkörnigem Froschlaich, nur dann und wann erschütterte sie Bewegung von innen her, wenn sich eines der durchsichtigen Eier in zwei Nachkommen teilte.
Man muß gestehen, er hatte oftmals die merkwürdigsten Anwandlungen; so kämpfte er zum Beispiel lang mit sich selbst, solches Gelüst verspürte er, eines seiner Pflegekinder zu verschlucken! Zuletzt nahm er eine unsichtbare Kugel in den Mund, und dabei ließ er es bewenden. Er drehte sie sacht mit der Zunge und fühlte auf Gaumen und Zahnfleisch die federnde Rundung, die ein klein wenig Wärme ausstrahlte. Am Tag nach diesem Ereignis entdeckte er auf der Zunge einen oberflächlichen Bluterguß, doch brachte er die beiden Tatsachen nicht in Verbindung. Es kam aber immer öfter vor, daß er mit den Kugeln zusammen schlief und dann nicht begriff, wieso die Bezüge von Polster und Decke zu zerfallen begannen, die doch bisher so gut gedient hatten. Als wären sie plötzlich mürbe geworden! Zuletzt riß das Bettlaken schlechtweg in Fetzen, es hatte mehr Löcher als Leinwand an sich, er aber begriff noch immer nichts.
Einmal weckte ihn in der Nacht ein brennender Schmerz am Bein. Bei Licht sah er dann ein paar rötliche Flecken auf der Haut der Wade. Er entdeckte immer mehr, sie sahen aus wie verquollene Brandwunden. Die unsichtbaren Kugeln hüpften überall auf dem Bettzeug umher, als er sich wieder zurechtlegte, um weiterzuschlafen. Und dieses Bild stimmte ihn argwöhnisch, — die Kerne der Kugeln flirrten wie Flöhe.
„Was denn, zum Teufel, tut ihr den Papi beißen?!“ flüsterte er vorwurfsvoll. Er blickte im Zimmer umher.
Der matte Widerschein der verstaubten Kugeln drang von überallher zu ihm: sie bedeckten den ganzen Schreibtisch, lagen auf dem Fußboden, in den Regalen, im Kochgeschirr, in den Töpfen, — selbst in der Tasse in einem Restchen Tee flimmerte etwas Verdächtiges. Unfaßbare Angst ließ ihm das Herz in Sekundenschnelle loshämmern. Mit schlotternden Händen klopfte er die Decke und Deckenkappe aus, schwenkte das ausgebreitete Kissen mit hoch erhobenen Händen, warf alle Kugeln auf den Fußboden, besah nochmals fürsorglich die fladenhaften Rötungen an den Waden, wickelte sich in die Decke und löschte das Licht. Das Zimmer hallte alle paar Minuten von jenem Klang: er ähnelte einem metallischen Fanfarenton, den ein plötzlich zuschnappender Deckel unterbricht.
* Ist das denn möglich? Ist das möglich? — dachte indessen er. „Ich schmeiß euch hinaus! Allesamt jag' ich euch fort auf die Straße! Marsch!“ — verkündete er plötzlich flüsternd, denn die Stimme drang nicht durch die ausgedörrte Kehle. Maßloser Kummer würgte ihn, preßte ihm Tränen aus den Augen.
„Undankbare Biester!“ — flüsterte er und lehnte sich an die Wand, und so, halb sitzend, halb liegend, schlief er ein.
Am Morgen erwachte er wie zerschlagen, mit dem Gefühl einer Niederlage, eines Unglücks. Mit den trüben Augen, mit all seinem Gedächtnis suchte er verzweifelt, was er denn gestern so Besonderes verloren habe. Auf einmal kam er zu sich, kroch aus dem Bett stellte die Lampe auf den Stuhl und machte sich an die methodische Untersuchung des Fußbodens.
Es ließ sich nicht bezweifeln: deutliche Nagespuren zeigten sich darauf, so, als hätte jemand feine zerstiebende Tröpfchen einer unsichtbaren Säure darübergesprüht. Ähnliche Spuren, wenn auch in geringerer Zahl, sichtete er auf dem Schreibtisch. Besonders stark beschädigt waren die Stapel von alten Zeitungen und Wochenmagazinen: fast überall waren die obersten Blätter durchlöchert wie ein Sieb. Auch das Email an der Innenseite der Töpfe war mit seichten Ätzspuren übersät. Lang sah er entgeistert das Zimmer an, dann begann er die Kugeln einzusammeln. Im Flur trug er sie zur Wanne, aber als diese schon weit bis über den Rand gefüllt war, schienen im Zimmer ebenso viele wie vorher zu liegen. Sie rollten an den Wänden entlang, er spürte die beunruhigende Wärme, wenn sich an seine Beine die Kugeln schmiegten. Sie waren überall. Matte Haufen in den Regalen, auf dem Tisch, in den Glasgefäßen, in den Winkeln — ganze Berge!
Er schlich benebelt und bekümmert umher, den ganzen Tag verlor er damit, sie von Ecke zu Ecke zu fegen, zuletzt füllte er sie teilweise in eine alte leere Kommode und atmete auf. In der Nacht schien die Kanonade heftiger als gewöhnlich zu klingen: der Holzvorbau der Kommode wirkte als großer Resonanzkasten, der dumpfe unheimliche Töne von sich gab, als schlügen die unsichtbaren Gefangenen von innen mit Glocken gegen die Wände. Tags darauf begannen die Kugeln über das Schutzgitter an der Tür hinwegzurieseln. Er trug Matratze, Decke und Kissen auf den Schreibtisch hinüber, bettete sich dort auf und saß dann mit untergeschlagenen Beinen auf dieser Lagerstatt. — Sofort hätte ich den Schraubstock holen müssen! — fiel ihm ein. — Was jetzt? Bei Nacht in den Fluß schütten?
Er entschied, dies werde das beste sein, aber laut wagte er diese Drohung nicht auszusprechen. Niemand sonst sollte die Kugeln haben, er aber wollte ein paar Stück behalten, mehr nicht. Trotz allem hing er an ihnen, nur daß sich jetzt Angst unter diese Zuneigung zu mischen begann. Ersäufen würde er sie alle, wie… junge Katzen!
Er dachte an die Schubkarre. Ohne sie käme er ja mit dem Abtransport gar nicht nach! Aber er versuchte sie nur anzuheben, wie sie da an der Wand in einer alten Grube festgefahren war, und trippelte wieder ins Haus. Schwach war er, sehr schwach. Er mußte das verschieben. Er beschloß, mehr zu essen.
Die Nacht war gräßlich. Müde, wie er war, schlief er trotz allem ein. Der erste metallische Klang weckte ihn, er setzte sich im Finstern auf, und vor ihm sprühte das ganze Zimmer kurze Zickzacklinien, aus der Schwärze tauchten für Sekundenbruchteile beleuchtete Ausschnitte aus den Wänden, den verstaubten Regalen, dem abgewetzten kleinen Teppich vor dem Bett; die Blitze vervielfachten sich im Glas der zitternden Gefäße; auf einmal schimmerte etwas matt durch den Bezug der Decke, mit der er sich zudeckte: also hier lauerte irgendeine tückisch versteckte Bestie! Angewidert schüttelte er sie ab.
Dieses irrwitzige Kindbett bot das Bild einer blitzdurchzuckten Landschaft, nur daß auf die winzigen Lichtblitze statt des Donners dieses Hämmern der Glocken folgte, das die Scheiben widerhallen ließ. Er schlief im Sitzen ein, an die Wand gelehnt. Kurz vor Tag erwachte er nochmals mit einem schwachen Aufschrei: eine Welle von blauem Gischt erhellte das Zimmer, überflutete es, die vervielfachten Zickzacklinien erreichten fast die Schreibtischplatte, und auf einmal erbebte der Schreibtisch und fuhr von der Wand weg: eine unsichtbare Kugel hatte ihn bei der Teilung weggestoßen. Er selbst aber fühlte die unerbittliche Kraft dieser Bewegung, und eisiger Schweiß überströmte ihn, er schaute mit hervorquellenden Augen auf das Zimmer, murmelte etwas — und schlief vor Erschöpfung nochmals ein.
Tags darauf erwachte er sehr geschwächt — so schwach, daß er kaum hinabklettern konnte, um den kalten bitteren Tee zu trinken, der ihm übriggeblieben war. Er zuckte zusammen, als er bis an den halben Leib in der weichen unsichtbaren Halde versank. So viele waren es, daß er sich kaum regen konnte. Mit größter Mühe drang er zum Tisch durch. Das Zimmer war von stickiger, erwärmter Luft erfüllt, als brenne darin ein unsichtbarer Ofen. Er aber fühlte sich sonderbar, er sank zu Boden, doch er fiel nicht, sie stützten ihn als elastische, federnde Masse, diese Berührung war so sacht, so weich, daß sie ihn mit unsäglicher Sorge erfüllte; der furchtbare Gedanke kam ihm in den Sinn, er habe vielleicht schon irgendeine mit der Hafersuppe verschluckt, eine kleinere, und in der nächsten Nacht werde sie sich in den Eingeweiden…