Aber Selma war dickköpfig wie eh und je und sagte: Ich kann überall in der Welt Landwirtschaft betreiben, in Israel oder in Sansibar. Und Kornitzer wußte, er richtete nichts aus, und gab grollend seine Einwilligung. (Daß sie tatsächlich ihr Studium in den Sand setzte, stand auf einem anderen Blatt. Und daß sie diesen Sand nur durch Einheirat in einen Bauernhof aus den Kleidern hätte schütteln können, was sich nicht ergab, merkte Selma erst später. Die Herren beim Bewerbungsgespräch hatten mit ihrer Warnung recht gehabt und auch ihr Vater mit seinem Grollen. Sie mußte ihre eigene schmerzhafte Erfahrung machen und entschloß sich später zu einem zweiten Studium, um Lehrerin zu werden. Da war sie schon für sich selbst verantwortlich.)
In dieser Zeit bekam Kornitzer Post von der Kindergeldstelle des Ministeriums, nur eine Anfrage, ein Formular, das auszufüllen war. Er beziehe Kindergeld für seine zwei Kinder mit Namen Georg und Selma, die Geburtsdaten der ziemlich erwachsenen Kinder waren aufgelistet, doch offenbar lebten die Kinder nicht in seinem Haushalt. Es stand nicht in dem Brief, er habe zu Unrecht jahrelang Kindergeld bezogen (doch die Vermutung stand im Raum). Es war von Nachweisen die Rede, Nachweisen über den Aufenthalt der Kinder, seinen Unterhalt für sie. Er fühlte sich gedemütigt. Wie kam der Verdacht zustande? Er war wütend, wedelte mit dem Brief vor Claires Nase herum: Es ist nicht unsere Schuld, daß die Kinder nicht bei uns leben, und nun sollen wir noch dafür bestraft werden. Nimm es nicht so schwer, es ist nur eine Formsache, mahnte ihn Claire vernünftig. Wir schreiben gemeinsam ans Ministerium, als Ehepaar. Sie sammelten Studienbescheinigungen, listeten die Besuche der Kinder auf, schrieben, die Kinder kämen in allen Schulferien nach Deutschland. Wir nähren sie, wir kleiden sie, kaufen Bücher und Studienmaterialien, schrieben sie, aber sie machen eine „ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende“ Ausbildung in England. Das war auch nicht ganz wahr, es klang diplomatisch. Kornitzer schrieb den Begleitbrief auf der alten Schreibmaschine, auf der er auch die Anträge in Bettnang geschrieben hatte. Wie gut, daß uns wenigstens diese Schreibmaschine aus Berlin geblieben ist, sagte er zu Claire. Sie sah ihn sonderbar an. Das ist nicht unsere Berliner Schreibmaschine, Richard. Die ist mir in Berlin bei einer Hausdurchsuchung abgenommen worden. Ich habe danach eine ähnliche kaufen können. Kornitzer richtete sich auf: Du hattest eine Hausdurchsuchung in Berlin? Wann und warum? Und warum hast du mir nichts davon gesagt? Claire hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Du hast nicht danach gefragt, und wir hatten so viel miteinander zu besprechen. Das stimmte. Richard Kornitzer nahm das streng gewordene Gesicht seiner Frau zwischen die Hände und streichelte ihr Kinn. Sein Finger und sein Blick blieben an einem Haar haften, das da nicht hingehörte. Ich habe dir auch nicht die zehn Jahre in Havanna haarklein erzählen können. Das wäre ein Roman gewesen, und Romanfiguren waren wir ja gerade nicht, antwortete sie. Wir mußten nach vorwärts schauen.
Er wußte nicht genau, was sie unter einer Romanfigur in diesem Augenblick verstand, vergaß es dann wieder. Und brachte den Brief an die Kindergeldstelle des Ministeriums noch am späten Abend zum Briefkasten, ein Sichelmond hing über der katholischen Kirche von Mombach, eine Vespa tuckerte auf der Hauptstraße. Er wollte den Brief aus dem Haus haben und dann mit Claire schlafen gehen, nicht zu früh, nicht zu spät. Vom übermäßigen Liegen hielt er nichts, er mußte sich die Niederlage vom Leibe halten.
Das Universum
Richard Kornitzer und Claire waren schon als Brautpaar um die Baustelle gestrichen, Erich Mendelsohn baute am unteren Kurfürstendamm ein Kino, dessen Fassade einen so rasanten Schwung hatte, daß man einfach stehenbleiben mußte. Nein, „man“ blieb nicht stehen, ein moderner Mensch blieb stehen, einer, der auch Schwung hatte und Optimismus, an einer Steigerung des Ausdrucksvermögens interessiert war, jemand, dem der Spaß an der Gemütlichkeit grundsätzlich abhanden gekommen war. Vermutlich auch jemand, der ins Kino ging und die alten Plüschschachteln von Kinos satt hatte, diese Stucktorten mit Samtbesatz und gipsernen Schnörkeln, falschem Pomp und Kronleuchtern im Foyer, die an Varietés erinnerten. Dick aufgetragene Versprechen für Provinzler, die zum ersten Mal nach Berlin gekommen waren und nach einem Amüsemang gierten. Nach weiblichen Beinen, strammen Schenkeln, die bis über den Scheitel gehievt würden, mit einem beglückten Aufseufzen und einem dramatischen Schweißausbruch im zweiten Parkett. Ufa-Palast, Marmor-Palast, Titania-Palast, Tauentzien-Palast, Gloria-Palast, alles Paläste des falschen Scheins. Saß man auf seinem Platz, spielte zur Einstimmung schon einmal ein Organist auf einer weißen elektronischen Orgel Melodien aus dem später gezeigten Film. Tingeltangel, Pleureusengefühl. Nein, ein solches Kino war von gestern. Das neue Universum war ein konsequent durchstrukturiertes Kino. Ein Kino, in dem man von jedem Platz aus eine exzellente Sicht hatte, ein Kino der Konzentration, alles Überflüssige fehlte. Bei Dunkelheit glühte das Kino vor Energie, die große Leuchtreklame sog die Besucher förmlich an. Sie war wie ein schlankes Band über dem Scheitelpunkt des geschwungenen Gebäudes angebracht, und auf der Spitze des keilförmigen Anbaus, der den flachen Hauptteil des Gebäudes kreuzte und den Lüftungsturm bildete, prangte das Firmenzeichen der Ufa. Es war eine machtvolle Demonstration des bedingungslos Modernen. Richard Kornitzer und seine junge Frau (noch Braut) waren da richtig. Sie hatten sich ineinander verliebt, und sie hatten sich in den Bau verliebt.
Denn haltgemacht: Universum — die ganze Welt! Palastfassaden? — Und die Rentabilität: Läden machen Geld, Büros beleben und schaffen Publikum. Säuleneingang für Mondäne? Maul, groß aufgesperrt mit Lichtflut und Schaugepränge. Denn Du sollst hinein, Ihr alle — ins Leben, zum Film, an die Kasse! So hatte der Architekt Erich Mendelsohn zur Eröffnung des Kinos für seine Erfindung geworben, er hatte selbstbewußt ein Magnetfeld der Wahrnehmung geschaffen, auch der Ökonomie, es war ein teures und großes Projekt, dessen einziger Fehler war, daß es mit der Weltwirtschaftskrise kollidierte. War denn das Geldverdienen und das Geldvernichten im Börsenkrach nicht auch eine Wahrnehmung, eine Empfindungsstärke, eine Empfindungsnotwendigkeit, die im absoluten Nichts enden konnte oder in einem Zusammenrücken von Familienverbänden, Paaren, die sich alles Kommende anders vorgestellt hatten, rosiger, schlichter, weniger schäbig und an den Nerven zerrend? War Leben Kino, war die Kasse Leben? Alles hatte mit allem zu tun, es brauchte eine ordnende starke Hand. Planen und Bauen, ein großes Rad Drehen waren ein Vabanquespiel geworden, aber eines von großer Eleganz. Man zog sich gut an, wenn man ins Kino ging, als wolle man mit den Helden und Heldinnen auf der Leinwand konkurrieren, nicht im Dunkeln sitzen und schauen, sondern angeschaut werden vor und nach dem Kino und die Gesten nachahmen, sich lasziv über die Haare streichen, verrucht im Zigarettenrauch die Lider senken und anderntags wieder zur Arbeit gehen und fürchten, daß man entlassen wird. Für eine Kinokarte würde das Geld noch reichen, immerhin. Aber warum sollte ein junger dynamischer Mensch wie Dr. Richard Kornitzer sich fürchten? Auch Claire mit ihrer Firma, mit ihrer Berufsausrichtung zwischen Geld und der modernen Kinokunst, hatte erfreut in die Hände geklatscht, ja, das Universum war ein großartiges Kino, Werbung und Massenkultur waren vornehm gezähmt, gebändigt und in eine produktive Richtung gelenkt, nichts war dem Zufall überlassen. Mendelsohn war ihr Mann (symbolisch), dem vertraute sie. Sie hatte ein Photo von ihm gesehen, darauf trug er einen weißen Anzug, der imponierte ihr in seiner Makellosigkeit; im Kino gab es solche Anzüge, Rudolf Forster trug weiße Anzüge, wenn er dekadente Lebemänner spielte, denen die Frauen zuflogen wie die Schmeißfliegen. Und er huldigte ihnen, als wären es Prinzessinnen aus einer anderen Zeit und keine Filmstars. Ein Gerichtsassessor konnte freilich kein Weiß tragen, es wäre unpassend und flatterhaft, künstlerhaft erschienen. Daß der Architekt Mendelsohn auch Kleider für seine Frau entwarf, konnte Claire nicht wissen, es hätte ihr aber sehr imponiert. Die kurvige Linie des Entwurfs für das Kino machte sie glücklich (die Freude, mit Richard zusammenzusein, natürlich auch, auf andere Weise, das war nicht zu vergleichen). Mit dem Architekten Erich Mendelsohn wollte sie ein Stück weitergehen, er war eine halbe Generation älter als Richard Kornitzer und sie. Seine bedingungslose Modernität des Bauens wurde behindert durch die Krise, durch die schwankende Ökonomie. Und ihr Bräutigam, der frischgebackene Justizassessor kurz vor dem Eintritt ins Richteramt, hatte über ihren Eifer, ihren das ganze Gesicht errötenden Eifer ein bißchen gelächelt, aber er verstand sie, verstand sie vollkommen. Er zeigte Freude und Begeisterung anders als sie, hielt sich eher bedeckt.