Hier das Kino, das überaus schöne Kino, das andere in Berlin überstrahlte, dort der Kurfürstendamm mit seinem ratternden Verkehr und seinem Kommerz. Vom Eingang des Kinos ging man ein paar Stufen ins Foyer hinunter auf elfenbeinfarbenen Steinquadern (Solnhofer Marmor), die auf magische Weise in elfenbeinfarbene Wände übergingen. Schleiflackwände, die sehr geheimnisvoll indirekt beleuchtet wurden. Die Decken darüber waren tiefblau, ein Abendhimmel, der auf den dunklen Kinoraum vorbereitete, und die Treppen in den Rang hinunter waren ebenfalls tiefblau, mit opulenten Teppichböden belegt. Das Kassenhäuschen stand wie ein Fels in der Brandung der anflutenden Zuschauer. Es war ein Pavillon aus Milchglas und Bronze auf einem Natursteinsockel. Das indirekte Licht im Foyer signalisierte vornehme Intimität und gleichzeitig eine Strenge, es hatte die Wirkung, als schwebten die Wandflächen wie frei aufgehängte Vorhänge im Raum. Der Kinoraum selbst hatte Paneele aus Mahagoni, man saß auf Sesseln aus ziegelrotem Samt, die Leinwand war angebracht hinter einem äußeren Vorhang, ebenfalls in Ziegelrot, und einem inneren Vorhang in einem Goldton. Das war ein Zugeständnis an den Publikumsgeschmack, hob sich aber gewaltig von allen weinroten Theaterseligkeiten ab. Der ovale Raum war so konzipiert, daß alle Konzentration auf die Leinwand gerichtet war, nichts sollte ablenken. Das Universum war das erste Kino in Berlin, das für die Präsentation der neuen Tonfilme konzipiert war, deshalb hatte es nur noch einen ganz schmalen Orchestergraben, aber die besten Lautsprecher. Das was das Universum, das Claire liebte, ein perfekter Bau, dem Richard Kornitzer ein wenig distanzierter gegenüberstand, aber er sah die Begeisterung seiner Verlobten und stand ihr nicht im Wege, ja, er beförderte sie.
Das Kino Universum, das 1.800 Zuschauer faßte, und daneben das Kabarett der Komiker, das Café Astor, eine Zeile mit Geschäften an der Ostseite des Komplexes, eine schwungvolle Hommage an das großstädtische Leben, an die Massenkultur. Ein Hotel und eine strenge, elegante Zeile mit Wohnungen sollten folgen. Diese hatten nach Westen ausgerichtete Loggien, manche ein Mädchenzimmer, viel Licht und Luft, und das gleich um die Ecke des Kurfürstendamms. Wohnungen, die für ein gehobenes Bürgertum gedacht waren, sich aber auch am Siedlungsbau für ärmere Mieter orientierten, ein feines Understatement in der Wirtschaftskrise. Mit der liegenden Kurve des Universum korrespondierte gut die zartere Wellenbewegung der Loggien in dem Wohnblock. Die Fassade aus cremefarbenem Putz war mit horizontalen Klinkerbändern gegliedert, halbrund traten die Loggien hervor. Richard Kornitzer und Claire fühlten sich sofort angesprochen. So wollten sie wohnen, im Woga-Komplex der Wohnungsgrundstücksverwertung AG. Und als sie 1930 heirateten, gelang es ihnen ohne Schwierigkeiten, darin eine Wohnung zu mieten. Im Börsenkrach war die Planung verändert worden, für das Hotel bestand kein Bedarf mehr, so wurden mehr Wohnungen gebaut, aus den geplanten Hotelzimmern wurden kleine Apartments, und die größeren Wohnungen an der Cicerostraße, auf die sie ihr Auge geworfen hatten, waren manchen potentiellen Mietern, die im Börsenkrach Geld verloren hatten, nun zu teuer. Das junge Paar hatte kein Geld verloren, denn es hatte noch nichts anzulegen.
Eines Tages hatte auf der Breitseite des Keils über dem Kinogebäude plötzlich eine riesige Aufschrift geprangt: LICHTREKLAMEN LÄDEN WOHNUNGEN ZU VERMIETEN AUSKUNFT HIER. Alle Buchstaben waren auf einem Quadrat aufgebaut, schlank und zugleich breit, eine Schrift, die alle Schnörkel abgelegt hatte, als wäre auch sie vom Architekten entworfen worden, alles aus einer Hand. Claire, die das Universum besuchte, zögerte nicht, sofort um Auskunft zu bitten. Da hatten sie das Aufgebot schon bestellt, die Liste der Hochzeitsgäste hin- und hergeschoben. Richard Kornitzer und sie besichtigten die Woga-Wohnung und waren begeistert, zwei Zimmer zur Straße, ein kleines zum weiten, lichten Innenteil des Komplexes, ein strenges, schwarzweiß gefliestes Bad und eine quadratische Küche mit einem Einbauschrank. Eine Wohnanlage, hell und luftig, vom berühmten Architekten Erich Mendelsohn gebaut, berichtete Claire ihrer Mutter voller Stolz. Wer ist das? fragte Claires Mutter hilflos. Er hat das Kaufhaus Schocken in Chemnitz, Nürnberg und in Stuttgart gebaut und plant ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße. Genügt das nicht? Das leuchtete Claires Mutter ein. Ja, sie sah sich auch den Komplex an und konnte nicht anders als die Tochter zur glücklichen Wahl zu beglückwünschen. Ob sie über die Wahl des Ehemanns ihrer Tochter wirklich glücklich war, ließ sie auf preußisch disziplinierte Weise nicht durchblicken, und dabei blieb’s.
Kornitzers Mutter hütete sich, zur Brautwahl ihres einzigen Sohnes eine bestimmte Meinung zu äußern. Sie war vor drei Jahren zum zweiten Mal Witwe geworden, saß in einer zu großen Kurfürstendamm-Wohnung, von der sie sich nicht trennen konnte, hütete zu viele Gegenstände, Vasen und Henkelkrüge und Schachteln voller Bänder und Knöpfe. In vielem, aber nicht in der Verwaltung ihres Vermögens, war sie auf ihren Sohn angewiesen. So eine selbständige Frau, sagte sie über Claire, und es war nicht klar, ob dies ein übergroßes Kompliment oder eine versteckte herbe Kritik war. Vielleicht wäre er mit einer weniger selbständigen Frau besser beraten, räsonierte sie, gab aber keinen Rat. Daß Claire groß gewachsen war und mit beiden Beinen auf dem Boden stand, imponierte ihr, aber sie hatte sich eher eine zarte Schwiegertochter, etwas wie ein Mädchen, anlehnungsbedürftig auch an sie, vorgestellt. Und eine Jüdin.
Wie gut die Türklinken in der Hand lagen, wie großartig es war, an der Brüstung der Loggia zu stehen in der Westsonne und die Ku’damm-Geräusche in der Entfernung zu hören, die Sonne malte Streifen auf die Dielen. Am Morgen das PloppPloppPlopp der Tennisplätze im stillen Herzen der Woga-Anlage, es war schön, vom Küchenfenster aus auf die sehnigen Beine der Spieler, ihre weißen Hosen und Hemden zu sehen, die Kraft, mit der sie die Schläge setzten, zu spüren. PloppPlopp, ein Ruf, ein Juchzen, ein Ball ins Aus, gerade vor dem Küchenfenster. Claire und Richard Kornitzer waren optimistisch, verliebt, sie hatten gute Berufe, sie hatten eine Zukunft, vor der sie sich nicht fürchten mußten. Plopp, ob sie auch Tennis spielen wollten, fragten sie sich, aber dann war Claire schwanger, und die Frage nach den Tennisstunden wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Jetzt sah Kornitzer seine Frau manchmal an, wie er sie vor dem Beginn der Schwangerschaft nicht angesehen hatte, es war ein Innehalten, ein Warten auf das Mögliche, auf das ganz Andere in ihr und auch in ihm selbst, wenn sie ein Kind hätten. Es war ein ungläubiges Wohlwollen, das sich in alle Richtungen biegen und beugen und strecken konnte, aber zu dem Glück der Empfindung trug auch bei, daß es sich nicht wirklich richten ließ. Er, Kornitzer, hätte diesem unspezifischen Empfinden selbst eine Richtung geben müssen, aber durch diese Entscheidung hätte er es beeinträchtigt, möglicherweise vernichtet. Und so stand er starr und bewegungslos vor seinem Empfinden, dem, was ihn lebendig und biegsam gemacht hatte. Er sah, er fühlte den Widerspruch, war ihm aber auf unheilvolle Weise ausgeliefert.