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Häufig schlüpfte Claire abends, kurz vor der Abendessenszeit aus dem Haus, betrat das Kino durch den Hintereingang, der sich gleich neben ihrer Haustür befand. Sie vermied das Foyer mit seinen vielen erwartungsvollen Zuschauern, zu denen sie nun einmal nicht gehörte: Sie war vom Fach, das hatte sie gleich klargestellt, als sie in den Woga-Komplex gezogen war und erste Kontakte zum Kino Universum knüpfte. Sie durfte das, hineinschlüpfen und wieder hinaus, ganz vorbehaltlos, sie kam kurz, sehr knapp vor der Vorstellung, stand mit verschränkten Armen ganz hinten in einem Gang. Sie sah entspannt aus, nicht wie eine professionelle Kontrolleurin, eine Erbsenzählerin des Publikums. Wie sich die Menge des Publikums zu der Menge von möglichen Käufern eines Produkts, für das im Vorfilm geworben wurde, verhalten könnte, das wußte kein Mensch, man mußte es erfühlen, erahnen aus der Temperatur des Raums, aus den Lachern, aus der Unruhe, dem Rascheln, Husten oder aus der überraschenden, aber ganz unfeierlichen Stille. Mit anderen Worten: Das, was Claire Kornitzer betrat, kurz vor Beginn der Vorstellung, war vermintes, unwägbares Gelände, man mußte tasten, sich aussetzen, Erfahrungen machen, sehen, wie sich diese Erfahrungen mit anderen vergleichen ließen. Sie war allein, sie war eine Pionierin, während die Zuschauer sich auf den Kinoabend freuten, bereit waren, in eine abgeschlossene Welt zu tauchten, ganz ohne Mißtrauen. Sie waren auch bereit, sich Spaß, Schmerz, Begeisterung hinzugeben, wie die Stimmungslage des Kinoabends es ihnen nahelegte. Claire Kornitzer dagegen beobachtete die Zuschauer mit nüchternem Blick, horchte in die Menge hinein. Der Film spulte. Oder wurde die Rolle aufgespult, während der Projektor raste und röhrte in der abgedichteten Kabine des Filmvorführers? Das Bild kapierte man mühelos. Es prägte sich ein, und genau das war seine Überlegenheit. Das Bild war da, das blendende Weiß eines Bettlakens, mit dem richtigen Waschpulver gewaschen, das glänzende, satt gewichste Leder eines Schuhs, das war eindeutig, unzweifelhaft (so schien es), das Produkt mußte nicht mehr marktschreierisch angepriesen werden. Etwas war offenbar, schlüssig, die Bilder offenbarten eine Welt, die sich selbst wortlos erklärte und schön war. (Bei der Wochenschau, nun ja, da war es wieder anders.) Bei Wörtern stellte sich jeder vor, was er wollte, was er konnte. Gar nichts konnte sich der Zuschauer manchmal vorstellen, er lieferte sich aus, er entblößte sich.

Sie „testete“ das Publikum, ohne einen Begriff davon zu haben, es war eine rein instinktive Handlungsweise. Man mußte sehen, ob das Hören, der Tonfilm, der machtvoll anbrandete an die Kinoleinwände, nicht auch die Werbung, für die Claire mit ihrer Firma Prowerb verantwortlich war, an den Rand drückte und sie am Ende des Kinoerlebnisses in Vergessenheit geraten war. Sie kam ins Universum und konnte die Eleganz, die sie von Beginn an so stark empfunden hatte, nicht mehr genießen, sie war hellhörig, aufs Äußerste angespannt, und ließ es nicht zu, daß man dies merkte. Sie arbeitete im Wirbel der Montagen, im raschen Helldunkel der Leinwand, während sie dastand im Gang. Wenn Claire im Kino darüber nachdachte, daß sie gerne die Zuschauer befragen wollte, warum sie hier sitzen, heute und nicht morgen und nicht gestern, warum sie sich für dieses Kino entschieden haben und für diesen Film, so verlor sie manchmal, mit der Strömung driftend, aus dem Sinn, welche Kinowerbung denn mit welchem Film zusammentraf. Auch das mußte besser oder überhaupt erst koordiniert werden. Gewiß würde die Leitung des Universum eine solche Befragung nicht dulden, die Zuschauer kamen, um sich zu entspannen und nicht, um als Versuchskaninchen, was sie von den flimmernden Bildern behalten hatten und was nicht, benutzt zu werden. Im Kino betrachteten sie die Zeit, und man mußte sehr, sehr vorsichtig sein, um sich selbst nicht wirtschaftlich das Genick zu brechen, wenn man sich mit dem neuen Medium eingelassen hatte. Immerhin saßen Tag für Tag 200.000 Menschen allein in Berlin im Kino, das machte die unvorstellbare Summe von 60 Millionen Kinobesuchern im Jahr aus, das Kinopublikum war weit größer und sein Einfluß stärker als der jeder anderen Gattung von Kunst und Unterhaltung.

Was konnte Claire Kornitzers Firma Prowerb diesem riesigen Publikum bieten? Oder besser: Wozu konnte sie es verführen? Oder noch besser: War es überhaupt verführbar, oder sah und merkte es sich nur die Werbung für Produkte, die es schon kannte? Schuhcreme, Haaröl, Shampoo, Waschmittel, Duftwasser. War es zu schönen, überteuerten Autos mit kühnen Schnauzen verführbar? Zu Bausparkassen, die mittels netter Haustypen in den grünen Vororten von Berlin warben, in Schmargendorf, in Frohnau, in Lichterfelde West. All das waren praktische und schöne, zartfühlende Immobilien im Grünen für Leute, die sich nicht so sehr für das Aktuelle und seine Abgründe interessierten. Die Kornitzers waren da anders, nah am Ku’damm hörten sie die Ausrufer der Abendzeitung — die Morgenzeitung hatten sie ohnehin gelesen —, die Zeitungen waren nicht wirkliche Werbeträger, die Zeitungen generierten keine Wünsche und Begehrlichkeiten, sie waren zu nüchtern (bilderlos).

Am besten (oder am risikolosesten) warb man im Kino für Produkte, die jeder Mann und besonders jede Frau brauchte oder brauchen sollte. Claire machte sich Notizen; die Notizen abzuarbeiten und gleichzeitig neue Werbefilme zu starten, erforderte viel Arbeit. Arbeit, die man gar nicht immer sah, anders als die Akten eines Juristen, die er mit nach Hause brachte, weil er seine Arbeitszeit vorwiegend selbst bestimmen konnte. Und Claire, die Termine hatte noch und noch, war ganz froh über diese Besonderheit. Es waren unternehmerische Entscheidungen zu treffen, die ihr niemand abnehmen konnte. Manchmal schwindelte ihr ein wenig bei der Tragweite.

Gleichzeitig dachte sie an ihren kleinen Jungen, der ins Bett gebracht wurde um diese Zeit, während sie im Universum stand — zur Verwunderung der Platzanweiserinnen. Sie hatte keine Kinokarte, brauchte sie nicht, und sie brauchte auch die Hilfe der Platzanweiserinnen nicht (oder das energische Eingreifen, wenn jemand sich in der Sitzreihe irrte). Ihr Platz war an der Mahagoni-Täfelung hinten im Gang, mit den Händen stützte sie sich ab. Sie dachte an ihren Mann, und sie sah, ohne wirklich zu denken, oder sie dachte, auf die große Leinwand schauend, eine offene Wahrnehmung mit allen Sinnen, derer sie sich nicht wirklich bewußt war. Bewußt war ihr die äußerste Konzentration. Ihr Arbeiten war aktiv und passiv zugleich, sie ließ die Atmosphäre auf sich wirken und zog daraus Schlüsse. Ob diese richtig waren oder falsch, konnte sie nicht überprüfen. In Wirklichkeit war sie die wahre Testperson, die sich der Gemeinschaft des Publikums aussetzte. Zuschauer wunderten sich, daß sie sich nicht setzte, wenn es dunkel wurde. Sie wunderte sich nicht, daß man sich wunderte über sie, sie ahnte: Sie wirkte wie eine Art von Kommissarin, Statthalterin (aber für was?), und diese Rolle war danach schwer abzustreifen.

Wieder schlüpfte sie durch den Hintereingang des Universum, kam nach Hause mit der gerade beförderten Gewißheit: Ja, so ist es gut, genau so. Oder dem Zweifeclass="underline" Hätte man die Unsicherheit über eine wirbelnde Kameraführung nicht beseitigen können? Hätte die Ankündigungsstimme für das beworbene Produkt nicht schmiegsamer sein können? Sie hatte eine letzte Abnahme des Werbefilms versäumt, das warf sie sich vor. Aber sie warf sich auch vor, sie habe nicht darauf geachtet, daß Georg nicht nur nieste, sondern auch schnupfte und am späten Abend, als sie noch einmal nach ihm sah, wirklich hohes Fieber hatte und daß das Mädchen die Krankheit ignoriert oder wirklich nicht begriffen hatte. So weckte Claire ihren Mann, der morgen früh oder — wenn der ihm unsympathische Rechtsanwalt schlau und überlang plädierte — erst am Mittag ein Urteil fällen mußte, und warf sich vor, zu lang gezögert zu haben, das Mädchen und auch Richard, der ja zuhause war und Akten studierte, nicht instruiert zu haben, dem kränkelnden Kind jede halbe Stunde eine prüfende Hand auf die Stirn zu legen, ein Gefühl zu entwickeln für eine Wärme, die sich zu einer ungewöhnlichen Hitze entfalten könnte, eine Empfindlichkeit, die im Zweifelsfall, wenn das Kind wirklich krank würde, auf die Mutter zurückfiele, nicht auf Cilly, die einen solchen Überblick noch nicht hatte, oder den Vater, von dem man eine so schlichte Geste des Handauflegens auf eine heiße (oder nur wärmer werdende) kleine Stirn gar nicht erwartete. Der Vater war für besondere Tätigkeiten zuständig, und das Kindermädchen war nicht zuständig. Hätte Cilly in der Abwesenheit der Eltern am Nachmittag einen Kinderarzt zu Georg gerufen, wäre das zweifellos eine Kompetenzüberschreitung gewesen, die Claire und Richard Kornitzer vielleicht gar nicht zuwider war, aber man hätte es immer wieder sorgsam mit Cilly besprechen müssen. Georg krähte ihren Namen fordernd wie eine Art von täglichem, stündlichem Kikeriki — Cilly hier und Cilly dort, er brauchte sie, forderte sie, und sie war dem kleinen bürgerlichen Prinzen als ein Mädchen vom Land, das mit Butter und Honig und Wiesenkräutern persönlich verwandt zu sein schien, zu Diensten. Ging Cilly auch ins Kino? Das wußte Claire nicht, und sie hätte es auch als Übergriff empfunden zu fragen, was Cilly an den freien Abenden unternahm. Sie war frei, „frei, sich nicht selbst zu schädigen“, Richard Kornitzer hatte es so vornehm bei ihrem ersten Ausgang ausgedrückt, und Claire und Richard Kornitzer, die ihr einen „schönen Abend“ wünschten, hatten gehofft, daß sie den geheimen Sinn dieser Formel (und auch die Sorge der Arbeitgeber, die darin verborgen war) verstand. Und so rief Claire wirklich spät in der Nacht aus eigenem Entschluß aufgeregt den Kinderarzt an, der sie auf den nächsten Morgen vertröstete. Da ging es Georg schon viel besser. Es war wie eine Welle der Erregung gewesen: Sie hatte am vorigen Morgen sein Unwohlsein nicht bemerkt, sie fühlte sich überhaupt eher nachlässig als Mutter. Insgeheim hatte sie ihrem Mann und dem Mädchen schwere Vorwürfe gemacht, Georgs aufflammendes Fieber übersehen zu haben — wie sie es auch vermutlich nicht bemerkt hätte, wäre sie an diesem Abend zuhause gewesen —, also waren die Vorwürfe in den Wind geschrieben, und das verschwitzte, erhitzte Kind, das sie am Morgen fest in ihre Arme schloß, schien keine Erinnerung an die schwere Nacht zu haben, in der niemand es aufnahm, herumtrug und kühlte, im Gegenteiclass="underline" es war gnädig und freundlich, als hätte es in einer Spalte des Gedächtnisses einen Erinnerungsfetzen, daß es die Hitze, das Fieber selbsttätig abgeschüttelt hatte, Gott — oder wer immer ihn vertrat an dieser Stelle in der Nähe des Kinos — wußte wie. Und Claire gelang es, sich zu beruhigen, indem sie sich ein bißchen von ihrem kleinen Sohn, ihrem Mann und auch Cilly fernhielt. Sie stürzte sich in die Arbeit, berechnete die Kosten für einen neuen Werbefilm. Es war ihre ganz persönliche Beruhigung, mochten sich Richard und Cilly ihre eigenen Gedanken machen.