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Der 1. April 1933 war der Stichtag. Boykottposten standen an den Eingängen der Gerichte. Der Reichskommissar für das preußische Justizministerium, Kerrl, hatte die nationalsozialistischen Justizbeamten angewiesen, darauf zu achten, daß kein jüdischer Richter, keine Geschworenen oder Schöffen erscheinen. Auch den jüdischen Anwälten, die die Gerichte betreten wollten, um Termine wahrzunehmen, wurde der Eintritt verwehrt. Bei den Terminen, zu denen trotzdem jüdische Anwälte schon vor der Absperrung erschienen waren, wurde die Vertagung herbeigeführt. Das war das Ende. Kornitzer sagte kaum etwas dazu, Claire mußte das Geschehen aus ihm herausfragen, herauswringen, und als er endlich sprach, gelang es ihr nicht, ihn zu trösten, so umfassend war seine Verstörung. Schlag auf Schlag wurden nach den Rechtsanwälten auch die Notare aus ihren Ämtern entfernt. An eine Weiterarbeit im Berufsumfeld eines Juristen war nicht mehr zu denken.

Am 6. April hielt Erich Mendelsohn in Brüssel eine flammende Rede. Er hielt sie nur wenige Tage, nachdem er geflüchtet war und sich in Amsterdam niedergelassen hatte. Er sprach nicht über Architektur, er sprach über Arier und Juden, über Deutschland, über die Liebe zum Land und seine Zerstörung von innen heraus. Die Geburt und Entwicklung der nationalsozialistischen Partei ist kein Wunder, sondern eher das logische Ergebnis des Verlustes an moralischer Balance in Deutschland. Das hörte in Deutschland niemand mehr, das wollte niemand mehr hören. Claire und Richard Kornitzer hätten ihn gerne gehört, in Brüssel, in Amsterdam oder in England, wo er dann mit Serge Chermayeff ein Architekturbüro gründete, aber sie waren abgeschnitten von dieser Stunde an, fortan.

Tage wie mit dem Rasiermesser geritzt, Tage der brüllenden Leere. Der Entwurf zum „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde in der Kabinettsitzung am Nachmittag des 7. April von Wilhelm Frick, dem Innenminister, vorgetragen und ohne nennenswerte Diskussion oder gar einen Einwand angenommen und noch am selben Tag im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Das Gesetz bot ein differenziertes Instrumentarium, um Juden aus dem Staatsdienst zu entfernen. Einerseits hieß der Absatz 1 des Paragraphen 3: Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. Aber schon der zweite Absatz behandelte Sonderfälle, die sogenannten Altbeamten, die bereits im Kaiserreich Beamte gewesen waren, und Kriegsteilnehmer im Fronteinsatz, beide Gruppen durften im Amt bleiben. Hindenburg hatte sich nachdrücklich für sie eingesetzt, nach Hindenburgs Tod verloren sie ihren Schutz. Schon vorher wurde Druck ausgeübt, daß diese Beamten freiwillig aus dem Dienst ausschieden. Wer das nicht tat, konnte nach Paragraph 6 im Interesse des Dienstes zwangspensioniert werden. Andere wiederum wurden zwangsweise beurlaubt, weil sie national eingestellte Referendare benachteiligt haben sollten oder wegen nationaler Unzuverlässigkeit. So konnten alte Rechnungen beglichen, Rache an fähigen, aber mißliebigen Ausbildern genommen werden. Auf einen Schlag waren in Preußen 640 jüdische Juristen beurlaubt worden; schöne Stellen wurden frei und wurden mit Parteigängern besetzt. Paragraph 4 drohte: Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. Es konnten auch Beamte zur Vereinfachung der Verwaltung in Pension oder Richter und Staatsanwälte an niedere Gerichte in der Provinz geschickt werden, was manche auch dazu brachte, um ihre Pensionierung zu bitten. Der Willkür war Tür und Tor geöffnet, aber immer konnte auf einen Paragraphen zur Rechtfertigung verwiesen werden. Für fast alle Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft war die Situation im Mai noch unverändert, sie waren beurlaubt und wurden überprüft. Sie hatten Auskunft zu geben über ihre Zugehörigkeit zu politischen Parteien und Verbänden und über ihre vier Großeltern. Listen wurden geführt über die Versetzung in den Ruhestand oder die Entlassung aus dem Staatsdienst mit den entsprechenden versorgungsrechtlichen Konsequenzen. Im Herbst 1933, ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes, war der Vollzug weitgehend abgeschlossen, und man hatte erreicht, die Betroffenen untereinander so zu spalten, daß für jeden andere Maßnahmen und Paragraphen galten als für seinen Kollegen.

Rasender Stillstand. Der Hinauswurf aus dem Gericht war das eine, die Anpöbelung war das andere. Kornitzer vergrübelte Stunden an seinem Schreibtisch, prüfte Adressen, setzte Bewerbungsschreiben in alle vier Himmelsrichtungen auf. Er war sich nicht sicher, ob er sich als jemand, der vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ betroffen war, bewerben sollte, also ein rassisch Ausgegrenzter, oder ob er unter Weglassung seines Doktortitels sich als jemand bewerben sollte, der eine Veränderung in seinem Berufsleben suchte. Die erste Lösung appellierte an einen anständigen Arbeitgeber, der sich nicht von der Nazipropaganda beeindrucken ließ. Die zweite setzte eher auf den Sonderfalclass="underline" Der Bewerber ist ein Außenseiter, ein Quereinsteiger, dazu mußte ein Arbeitgeber eine Neigung haben. Nur eines hatte sich Kornitzer verboten: demütiges Betteln, nervöses Drängeln. Es war ein dauerndes Kopfdrehen, ein angespanntes Lauschen nach Möglichkeiten zu arbeiten. Ein Durchforsten von Anzeigen, ein Zusammenrücken, ein Zusammenzucken, ein Aufgestörtsein, eine Alarmiertheit. Er war hinausgeflogen aus dem Richteramt, der Staat wollte ihn nicht mehr, was sollte ihm sonst noch geschehen? fragte er sich. Vergrab dich nicht, Richard, sagte Claire. Geh ins Kino. Als sie die Ermunterung ausgesprochen hatte, kam sie ihr selbst lächerlich vor, aber als sie in Richards Gesicht sah, merkte sie, daß sie ihn mit ihrem simplen Vorschlag auch verletzt hatte. (Ein Menschenalter später würde ein amerikanischer Präsident an dem Tag, an dem die zwei Türme in New York angegriffen wurden und ausbrannten vor den Augen der Welt mit den dort Anwesenden und Arbeitenden, die Bürger seines Landes anweisen: Go shopping!)

Am 30. April 1933 vormittags fand in Berlin eine Kundgebung zum Thema „Deutsche Werbung für deutsche Arbeit!“ statt. Hans Hinkel war anwesend, der „Reichskulturwalter“ des „Kampfbundes für deutsche Kultur“, der bald Staatskommissar für Kultur werden sollte, und Freiherr von Oberwurzer, der Wirtschaftsbeauftragte der NSDAP, und beide sprachen auf der Kundgebung. Der Redakteur des renommierten Branchenblattes „Seidels Reklame“ schrieb einen Bericht: Beide Redner rissen die Anwesenden mit und gaben ihnen ein erfreulich eindeutiges unmißverständliches Bild von der grundsätzlichen Einschätzung des neuen Deutschlands zu den kulturellen und wirtschaftlichen Problemen unserer Zeit! Nach der Proklamation der Werbefachleute beschloß die von Orgelmusik, dem gemeinsamen Gesang der Nationalhymne und des Horst-Wessel-Liedes umrahmte Kundgebung die feierliche Verpflichtung der anwesenden Werber, sich und ihre Arbeitskraft jederzeit und uneigennützig für das Wohl der deutschen Arbeit einzusetzen. Auch in der Werbung habe der Geist des neuen Deutschlands gesiegt. In der kommenden Zeit solle kein Platz mehr sein für ausländische Reklame, die nicht der deutschen Wesensart entspricht. Im darauffolgenden Jahr entzog der Werberat 37 Werbetreibenden auf Dauer die Genehmigung zu werben (mit anderen Worten: den Boden unter den Füßen), und gleichzeitig sprach er 76 Maßregelungen und Verwarnungen aus, wenn die Werbung nicht in das neue Konzept paßte. Reklame, das war eindeutig, war im Grunde nichts als ein Überbleibsel jüdisch liberalistischer Wirtschaftsauffassung, ein verhaßtes Überbleibsel aus der Weimarer Zeit.