Выбрать главу

Selma schrie, schrie und ließ sich nicht beruhigen, vielleicht weil sie die Unruhe und Nervosität um sich herum spürte. (Eine Projektionsfläche ihrer Eltern?) Mit wieviel Ruhe hatte Claire sich Georg gewidmet, wenn er gestillt wurde, wie schuldbewußt war sie gewesen, wenn sie seinen Schnupfen, sein aufkommendes Fieber übersehen hatte. Das kleine Mädchen in der Wiege gedieh, aber ganz nebenbei, die Sorgen wuchsen, und es wuchs auch. Sein dunkles Schöpfchen stand zu Berge. Das zweite Kind wehrte sich durch Vitalität gegen die Entwertung. Es stimmte ja, was Richard gesagt hatte: Georg war nie mehr allein. Aber er schlief auch schlecht, wachte auf, wenn Selma wie am Spieß schrie und nicht mit Kamillentee oder einem väterlichen Finger, an dem sich lutschen ließ, zufriedengestellt werden konnte. Selma war auch nie allein, nie hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit, die der zarte Georg auf sich gezogen hatte. Und wenn Claire, erschöpft vom Schreien des Kindes, abends zu Richard sagte: Ich könnte auch schreien vor Wut und Verzweiflung, erzählte ihr Richard: Wenn ich meinen Kollegen in der Glühlampenfabrik zuhöre, reden sie von Fußball-Ergebnissen, vom Rennfahrer Rudolf Caracciola und von Boxkämpfen in einer Mischung von Apathie und Vergnügungssucht. Sofort nach Feierabend und in den Pausen geht es in die Kantinen und Kneipen. Man besäuft sich, macht Krach, und wenn Radiomeldungen kommen, wollen die Kollegen von all dem nichts wissen, lieber grölen sie: Wir versaufen unserer Oma ihr klein Häuschen. Es ist eine Stimmung verzweifelter Gleichgültigkeit, Gebrüll, Gekreisch, Rohheit, eine verschwitzte Kameraderie in den wilhelminischen Ziegelkathedralen der Arbeit. Das ist die Volksgemeinschaft, zu der ich nicht gehöre. Ich muß die Zähne zusammenbeißen.

Der Aufprall

Das Jahr 1938 beginnt mit einem Schock: Kornitzers Mutter stirbt. Nicht daß Kornitzer gedacht hat, seine Mutter werde ewig leben, aber er hat ihre Klagen nie ganz ernst genommen: daß sie doch eine alte Frau sei und müde der Kämpfe, daß sie todmüde sei (er hat dieses Wort nicht wirklich zu sich dringen lassen). Wenn er sie mit sich selbst verglich (wenn das überhaupt möglich war), so hatte sie doch eine gesicherte Existenz. Die Klagen waren einfach an ihm abgeprallt. Und wenn er sie besucht hat in der kalten Pracht der großen Ku’damm-Wohnung mit den Wandschränken, Winkeln und Abseiten, amüsiert er sich auch leise über die unnachahmlich damenhafte Art, wie sie ihm eine Flasche schwarzen Johannisbeersaft entgegenhält: Bitte öffne sie, ich bin zu schwach. Er hat rasch durchschaut, wie taktisch (auch originell) sie ihre Hilflosigkeit einsetzt. Einmal gibt sie ihm Glühbirnen in die Hand, die er, auf einem wackligen Stuhl balancierend, in ein blasses Seidenschirm-Wandlämpchen einschrauben muß, und gleichzeitig muß er viel Staub wegpusten. Ein anderes Mal zeigt sie ihm einen tropfenden Wasserhahn, der nach einer Dichtung verlangt. Er fühlt sich gleichzeitig unter- und überfordert von diesen kleinen Hausmeistertätigkeiten, die eine Unterlage für ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn sein könnten, aber dazu kommt es nicht. Und während er hier und dort an den Gewinden herumschraubt, klagt sie: Was soll denn werden? Was soll denn werden? Und sie beschwört Kornitzers im Weltkrieg gefallenen Vater, ihren zweiten, an einer Embolie plötzlich gestorbenen Mann, der sicher gewußt hätte, was man nun tun solle — jetzt in Deutschland. Er hätte die richtige Entscheidung gefällt, meint sie. Kornitzer bezweifelt das. Er bezweifelt alles Mögliche. Er hat seinen Schrecken über den Tod des Vaters im Sinn behalten, die Erinnerungen sind bruchstückhaft, an eine weitreichende, vorausschauende Klugheit, die noch in das nächste Jahrzehnt hinüberlappt, erinnert er sich nicht. Kornitzers Mutter bezweifelt sein Bezweifeln, sie weiß vieles aus Bedacht nicht, oder sie wünscht es nicht zu wissen. Auch über ihre Vermögensverhältnisse weiß sie nicht wirklich Bescheid. So scheint es ihm. Es ist, als wolle sie ihn mit den Hausmeistereien in der stickigen Wohnung zu einer Entscheidung bringen. Wenn du schon so abgesunken bist, daß du in einer Glühbirnenfabrik arbeiten mußt, bist du ein anderer Sohn geworden als der Juristensohn, auf den ich stolz war. Der Richter, der du warst, hätte Rat gewußt. Kornitzer kam es manchmal vor, als stecke in ihren prononcierten Klagen ein Vorwurf, er sei es selbst schuld, daß die Nazis ihn aus dem Richteramt gejagt hätten, und er mußte seinen Zorn herunterschlucken. Die rassische Verfolgung ignorierte sie, so gut es eben ging. Sie war einfach eine Dame, in deren Welt vieles unvorstellbar war. Daß man im Scheunenviertel aufräumte, nun ja, dafür hatte sie sogar Verständnis. Ihr Lebensraum hatte sich verengt, die große Wohnung saß wie eine faltige Hülle um ihren Körper, sie faßte sich ans Herz, blieb tagelang im Bett, die unvermeidliche Flasche mit Johannisbeersaft neben sich. Was für einfache Dinge wichtig wurden: das Übrigbleiben, das Reduzieren. Die Enttäuschung stand im Raum, daß der Sohn letztendlich oder von Anfang an in seinem Erwachsenwerden weder den ersten Ehemann noch den zweiten ersetzte, doch das war kein Vorwurf, nur ein Gefühl, das sich Kornitzer mitteilte. Sie ließ den Arzt kommen, zählte sorgsam die Herztropfen, die er verschrieb, in einen Eierbecher, dann stand sie wieder auf und empfing Freundinnen und Freunde, den Sohn, die Schwiegertochter, die Kinder, die sich gerne in den Abseiten der Wohnung versteckten, und alles war wie immer. Nun war sie tot, und alles war anders. Kornitzer machte sich Vorwürfe, er habe ihre Klagen auf die leichte Schulter genommen.

Seine Mutter war auf weitschweifige und beharrliche Weise gläubig gewesen, nur die Speiseregeln hatte sie, nachdem sie Witwe geworden war, aufgegeben. Zu vielerlei, all das Geschirr, die zweifache Menge von Töpfen. Doch auf einer Regel beharrte sie: Nach dem Fleischernen nie mehr Milch. So servierte sie nach dem Essen nur schwarzen Kaffee, und keine Bitte konnte sie erweichen, nur ein winziges Kännchen Milch auf den Tisch zu stellen, es war verboten, sie war gesetzestreu. Sie tauchte mit Eifer in das Laubhüttenfest, band die Sträuße und verbrachte in Ermangelung einer Hütte viel Zeit auf ihrem zugigen Balkon, der wie ein Schwalbennest über der Verkehrsader hing. Die bunten Papiergirlanden, die andere über ihren Balkon hängten, waren nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Jetzt war es genug. Abdankung, die Freiheit, gehen zu können zur rechten Zeit, zur längst überschrittenen Zeit, die gerade noch angehalten werden konnte. (Wie lang und mit welchem Ergebnis?)