Weil du so viel Kummer mit mir hast, sagt er beiläufig. Die Saphire leuchten tiefblau, und Claires Augen glitzern smaragdgrün. Du hättest kein Geld für mich ausgeben sollen. Wir brauchen es an anderen Stellen, sagt sie schließlich. Wir brauchen etwas, was wir nicht brauchen, antwortet Kornitzer spontan, und er wundert sich selbst über seine Antwort, die so gar nicht zu planen und auszudenken gewesen ist. Und er macht Claire noch ein zweites Geschenk. Er sagt ihr, nicht an diesem Abend, an dem sie sich über das Armband freuen soll und es schließlich auch tut, sondern an einem anderen Abend, vielleicht eine Woche später, er wolle zum Protestantismus übertreten. Das Begräbnis, nicht der Tod seiner Mutter, habe ihm klar gemacht, daß ihn nichts mehr an sein Judentum binde. Wenn er ein literarischer Leser wäre, aber das ist er ja nicht, hätte er sich an eine Stelle bei Lytton Strachey erinnert. Als dieser über den Kardinal Manning schrieb, dessen Bekehrung zum römisch-katholischen Glauben das viktorianische England in den Grundfesten erschütterte, erwähnte er dabei auch zwei Zeitgenossen, die im Verlauf der Ereignisse ebenfalls ihren Glauben verloren hatten, jedoch mit dem Unterschied, daß der eine den Verlust wie den eines schweren Koffers spürte, von dem man im nachhinein feststellt, daß er nur mit alten Lumpen gefüllt war, während der andere ein solches Unbehagen bei dem Verlust spürte, daß er nicht aufhörte, bis zum Ende seiner Tage nach dem verlorenen Koffer zu suchen. Und sicher hätte Kornitzer sich dem Mann mit dem Lumpenkoffer näher gefühlt.
Die Ankündigung überraschte Claire, band sie beide enger aneinander. Es war keine Vorsicht, der Verfolgung in der Verkleidung zu entkommen. Es war ein Versuch, noch mehr Nähe herzustellen, wo Nähe bestand. Kornitzers Nähe zu seiner Frau, das war wenig genug, aber doch viel. Sie gingen schon lange nicht mehr ins Universum. Das Kino als ein Ort der Illusion war tot, totgebrüllt, es gab keine Illusionen mehr, es gab den Aufprall der Wirklichkeit und die Wirklichkeit, die geprobt und in den Blickwinkel gerückt wurde. Sie hieß: Heldenhaftigkeit. Vorbereitung für das große Kommende, das ein Entsetzen war. Ein ganzes Volk mußte eingeschworen werden auf einen harten Blick, auch auf einen Blick auf Verluste, Verzicht, da spielte das Kino seine treuhänderische Rolle, und die Werbung hielt stand. Die Wochenschauen brachten Bilder aus dem spanischen Bürgerkrieg, kriegslüsterne, kriegsgesättigte Bilder, auf denen die deutschen Flugzeuge eine glanzvolle Rolle spielten beim Niedermetzeln der Republikaner. Gasmasken wurden auf den Markt geworfen, aufgestülpt und erprobt. Was sollte die Werbung da leisten: Für Gasmasken war nicht zu werben, nirgends, also war nur für einen Zustand zu werben, der die Gasmaskenwerbung hinüberschwindelte in eine Seifenoper-Ambivalenz. Das hätte Claire niemals gekonnt, das hätte sie nie gewollt, sie wollte keine Werbung mehr sehen, und sie wollte keine Filme mehr sehen, die für ein Heldentum warben oder für einen Heroismus, der übrigblieb, wenn das Heldentum an seinen Rand gekommen war und abstürzte. So hatte es sich ergeben, daß sie nicht mehr am Kurfürstendamm herumbummelte, nicht mehr in die Kinos schlüpfte, aber doch ein Stück weiter vom Kurfürstendamm weg am Hochmeisterplatz in die wilhelminische Backsteinkirche mit der großen Vorhalle trat, in den Raum mit den gedrungenen Doppelsäulchen, zum Gesang und Gebet in der Hochmeistergemeinde: Das war ästhetisch vielleicht ein Rückschritt, aber es war gut so. Sie kam gestärkt aus den Gottesdiensten, sang Ein’ feste Burg ist unser Gott, und dann nahm sie die Kinder mit in den Gottesdienst. Und nun hatte Richard sich angeschlossen, ohne Zaghaftigkeit. Seit er verfolgt war, verstand er besser das Zusammenscharen unter den Bildnissen, den Statuen des Gekreuzigten, die Religion, die den gemarterten Judenkönig in ihren Mittelpunkt gerückt hatte. (Mehr war dazu nicht zu sagen.) An die Auferstehung dachte er weniger. Es war ein Suchen, ein Finden war nicht unmittelbar vorausgesetzt. Irgendein Vorteil für ihn oder die Kinder war von diesem Übertritt zum Protestantismus nicht zu erwarten, Kornitzer folgte einem Gefühl, begab sich also auf unsicheres Terrain, sein juristisch geschulter Verstand blieb außen vor, wie so häufig in den letzten Jahren. Er war einfach nicht mehr gefragt, obwohl Kornitzer ihn nicht abmelden konnte. Kornitzer hatte den Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 4. Oktober 1934 zur Taufe von Juden durchaus zur Kenntnis genommen, er hatte die Nachricht ausgeschnitten, ordentlich mit dem Datum beschriftet und in seine Schreibtischschublade gelegt. Der Übertritt zum Christentum verändert den Status nicht. Eine grundlose Treue zu einer Sache konnte verschiedene Formen annehmen, erst im nachhinein sähe man, ob sich hinter der Untreue eine geheime, besonders beharrlich verstrickte Treue verbarg oder umgekehrt hinter der Treue die Untreue hervorschimmerte. Es war wie mit dem Koffer: Erst wenn die Möglichkeit bestand, ihn zu öffnen, würde sich finden, ob darin lauter alter Lumpen geknüllt wären oder etwas, das sich aufzuheben lohnte. Und wenn es nur eine Hoffnung wäre. Aber vielleicht war kein Koffer verlorengegangen, würde kein Koffer verlorengehen, und das ganze Bild war schief, unzutreffend, mußte ausradiert werden. Und doch: Der Besuch der Hochmeisterkirche an der Seite seiner großen Frau, das Singen, Ein’ feste Burg ist unser Gott,/ ein’ gute Wehr und Waffen./ Er hilft uns frei aus aller Not,/ die uns jetzt hat betroffen, erleichterte ihn, erleuchtete ihn, beglückte ihn auch. Es war eine Sicherheit in der Tonfolge, eine Sicherheit in der Geschichte gab es nicht. Als assimilierter Jude war er allein, zu Tode assimiliert, in einer schönen tragischen Sackgasse, in der wollte er nicht steckenbleiben. Aber war denn Religion zufällig oder austauschbar? Neutralisierte die Taufe, machte der Religionswechsel zu einem Sowohl-als-auch? Flucht und Verwandlung, eine Umwertung der Zugehörigkeit. Daß seine Taufe auch als ein Verrat an den jüdischen Glaubensgenossen gesehen werden konnte, kam ihm nicht in den Sinn.
Die Produktwerbung im Radio war im Jahr 1936 verboten worden. Und die Drohung schwebte im Raum, daß auch die Werbung im Kino verboten würde. Jetzt kam es darauf an, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, nicht mehr den einzelnen möglichen Kunden zu umwerben. Neben eindeutigen NS-Inhalten hieß die Direktive, den Stolz auf den gemeinschaftlichen Wohlstand (oder die zukünftige Partizipation an ihm) herauszuarbeiten. Dazu war Claire Kornitzer nicht die richtige Person, ihr Wohlstand sank, ihre Firma hatte Sorgen. Was sie nicht einschätzen konnte, was niemand einschätzen konnte, war die erforderliche Überführung ihrer glanzvoll gestarteten Firma in die Reichsfilmkammer. Da die Kinowerbung als ein Teil der Kultur angesehen wurde, da die Kultur massenhaft organisiert und kontrolliert werden mußte, wurden die Kulturschaffenden in die Reichskulturkammer mit all ihren Unterabteilungen getrieben: wie eine Schafherde, wie die Wirtschaft im gleichen Maße kujoniert und zusammengestaucht wurde. Gleichschaltung. Die Bürokratie, die Lenkung nahm zu, man konnte hinhalten, sich darunter hinwegducken, auf Zeit spielen, Briefe unbeantwortet lassen. Ohne Mitgliedschaft in der Reichsfilmkammer war eine Führungsaufgabe in der Filmwirtschaft unmöglich. Um Mitglied in der Reichsfilmkammer zu werden, mußte Claire einen Antrag stellen. Das tat sie, widerwillig zwar. Umgehend wurde sie aufgefordert, innerhalb von vier Wochen ihren arischen Abstammungsnachweis für sich und, da sie verheiratet war, auch für ihren Ehemann beizubringen. Das konnte sie nicht, wieder Zeitverzug, Fristenverlängerung und dann die Gewißheit: Keine Mitgliedschaft in der Reichsfilmkammer, keine neuen Aufträge, die Kosten blieben erhalten, Schulden blieben stehen, die Firma krepelte, und schließlich bekam sie in ihrem Büro Besuch von zwei Herren, die sie einmal in der Konkurrenz abgehängt hatte. Sie schlugen ihr ohne viel Federlesens vor, die Prowerb zu übernehmen. Wie kamen sie dazu? Es war kein Vorschlag, es war eine Drohung. Es war keine Drohung, es war eine Erpressung: Wenn Sie diesen Vertrag nicht unterschreiben, wird es die Prowerb nicht mehr geben. Nicht unter Ihrer Geschäftsführung, nicht unter anderer. Sie wollen doch Ihre Firma nicht zugrunde gehen lassen. Sie haben doch Verantwortung. Und diese Verantwortung gehört in Hände, die der neuen Zeit gewachsen sind. Und sie fuchtelten mit ihren verantwortungsbewußten Händen vor ihrer Nase, fuchtelten über ihren Schreibtisch, nahmen mit Blicken schon alles in Besitz. Claire bat sich Bedenkzeit aus, redete sich heraus, aber es gab keine Bedenkzeit. Es war kriminell, sie wußte es, die beiden, die sie bedrängten, taten, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, sich kriminell zu verhalten, einer Frau mit einem jüdischen Ehemann die Firma abzuluchsen, man mußte nur breitspurig und dreist daherkommen. Den Vertrag zu unterschreiben, war eine Farce. Ebenso gut hätte einer der beiden ihre Unterschrift fälschen können. Als Claire mit weichen Knien zu einer ungewöhnlich frühen Zeit nach Hause in die Cicerostraße kam, hielt ihr Georg vorwurfsvoll sein Feuerwehrauto entgegen. Ein Rad war abgefallen. Kannst du es wieder heile machen? fragte er. Nein, das konnte sie nicht. In kürzester Zeit war die Prowerb liquidiert, aus dem Handelsregister gelöscht.