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Claire hatte vom Büro Grüber raunen gehört und fuhr in die Hortensienstraße 18 nach Lichterfelde. Dort hatte der Pfarrer Heinrich Grüber 1936 im Gemeindehaus eine Hilfsstelle für evangelische Rasseverfolgte gegründet. Aber das Haus war zu klein geworden, die Hilfsstelle zog um nach Berlin Mitte in die Straße An der Stechbahn. Claire nahm die S-Bahn, wechselte den Zug, stieg wieder um, ein blindes Hasten durch die Stadt, die sie kaum mehr wahrnahm. Dann fand sie die angegebene Adresse. Im Büro arbeiteten mehr als 35 Menschen, es gab Zweigstellen in anderen Städten. Wären Sie oder Ihr Mann doch früher gekommen, seufzte die Helferin, ein paar hektographierte Blätter wurden ihr in die Hand gedrückt, und dann der Nächste bitte. Früher, dachte Claire, hätten sich Protestanten gar nicht für ihren Mann eingesetzt. (1940 wurde Grübers Hilfsstelle von den Nationalsozialisten geschlossen, er selbst und seine Mitarbeiter wurden verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt. Nach 1945 eröffnete er wieder eine Hilfsstelle: diesmal für ehemals evangelische Rassenverfolgte. Er war eine Art von ethischem Triebtäter. Ein Mann mit einem robusten Optimismus, ein stetig sprudelnder Quell der Hilfsbereitschaft, ein Glücksfall für die Hilfesuchenden, wenn sie denn in sein Konzept paßten.)

Im Büro Grüber erzählt man Claire auch, daß sich die Quäker zuständig fühlten für rassisch verfolgte Protestanten. Sie rennt in die überlaufene Geschäftsstelle der Quäker, geduldig wartet sie unter den Bittstellern, es bleibt ihr gar nichts anderes übrig als zu warten. Sie erzählt ihre Geschichte, die vielen anderen Geschichten gleicht. Man schreibt ihren Namen auf, den ihres Mannes, ihrer Kinder. Sie wird in ein anderes Büro geschickt. Nur Kinder! heißt es hier. Wir bringen Kinder nach England! Und die Eltern? fragt Claire. Die Dame ihr gegenüber schaut streng und gleichzeitig unglücklich: Wir haben nicht genug Mittel, heißt die Antwort.

Während der Novemberpogrome wurden 30.000 jüdische Männer verhaftet und fast alle in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau verschleppt. Auch vier Richter aus dem Kammergericht in Berlin waren dabei. Richard rannte, als der Schrecken sich gelegt hatte, in die Pariser Straße 44 zu den Verkaufsräumen des Philo Verlags und besorgte sich den neuen Philo-Atlas, der im Wettlauf gegen die Zensur entstanden war, begann bei den ABC-Staaten zu lesen, las über Abessinien, stockte schon bei dem Stichwort Abmeldung, polizeiliche. Er blätterte zu Auswanderung und las den Rat: Bereitschaft, jede Arbeit anzufassen. Einwanderer muß in d. Regel weit unter seinem bisherigen Stand neuanfangen: dies hat auch nichts Entehrendes an sich. Intensive Bemühung um Sprachkenntnisse. Bereitschaft, sich v. d. Großstadt zu lösen und in weniger von Auswanderern überlaufenen Gegenden Existenz zu gründen. Nur unter solchen Bedingungen pflegt A. bes. in überseeische Länder zum Erfolg zu führen. Der existenzielle Pragmatismus erschütterte. Kornitzer las das Stichwort Auswanderersperrguthaben, schon bei dem Wort graute es ihm. Er studierte Umrechnungstabellen, Impfempfehlungen, Visabestimmungen. Während der Novemberpogrome war die Buchhandlung des Philo Verlages verwüstet worden, jetzt war sie notdürftig wieder aufgeräumt, zum Jahresende 1938 wurde der Verlag durch die Gestapo liquidiert, der Atlas war seine letzte Tat gewesen.

Nur Kinder! Claire und Richard sehen ihre Kinder an, als sähen sie sie das erste und letzte Mal. Ja, sie müssen heraus aus dem Land, ihre Eltern werden es auch schaffen. In Windeseile kauft Claire Winterkleidung, Schuhe, Wäsche. In den letzten Dezembertagen reist ein Transport der Quäker, bei dem die Kornitzers für die Kinder einen Platz ergattern. Alles geht so schnell, eine einzige Aufregung, eine Rolltreppe des Abschieds, auf der sie weitergeschoben werden. Alles zum letzten Mal, alles zum letzten Mal. Im trüben Wartesaal des Bahnhofs Zoo ist ein Tannenbaum mit lauter Hakenkreuzfähnchen geschmückt. Schweigend räumen Claire und Richard am Abend das Kinderzimmer auf, schweigend wenden sie später den Kopf zur geschlossenen Kinderzimmertür, kein Laut, nichts, nur die Erinnerung an ihre Stimmen, die Kinder sind fort. Es wird ihnen gut gehen, sagt Kornitzer spät am Abend. Es wird ihnen gut gehen, Claire. Und jetzt ist ihr Schweigen ein vollkommenes Einverständnis.

Anfang 1939 radikalisierte sich die Politik der Verfolgung ein weiteres Mal. Alle Pensionen von jüdischen Beamten wurden nun um mehr als 30 Prozent gekürzt. Zur gleichen Zeit bekam Kornitzer einen Brief seiner privaten Krankenversicherung, der Leipziger Vereins-Barmenia: Wir warten nicht mehr auf Ihre Rechtsauskunft, sondern ersuchen Sie nochmals, die Austrittserklärung baldigst einzuschicken. Wenn Sie die Signale der letzten Zeit verstehen, so ist für Juden kein Platz mehr in Deutschland, noch viel weniger in einer Gefahrengemeinschaft (Krankenversicherung) von nur arischen Volksgenossen. Das bisher getragene Risiko hört auf. Für Erkrankungen von Juden werden Beiträge deutscher Volksgenossen keine Verwendung mehr finden. Genehmigungspflichtige Heil- und Hilfsmittel wird kein Jude mehr erhalten. So erwarten wir auch von Ihnen die baldige Zustellung der Austrittserklärung.

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Der Volkskörper eiterte ihn heraus, er war Fremdkörper, sein Körper war schutzlos. In dieser Zeit las er von den obskuren Siedlungsplänen in der Dominikanischen Republik. Ihr Präsident, der Diktator Rafael Leonidas Trujillo Molina, ein großer Bewunderer Hitlers, hatte auf der Konferenz von Evian das Angebot gemacht, 50.000, wenn nicht 100.000 Menschen ins Land zu lassen, zunächst mündlich und dann auch schriftlich, was bindend war vor dem Intergovernmental Committee, freilich im Rahmen der zur Zeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Und die Gesetze machte er. Vorher hatte Trujillo haitianische Pflanzer ins Land geholt, doch sie im Oktober 1937 zu Tausenden abschlachten lassen. Das Massaker war eine wirkungs- und machtvolle Enteignungsmaßnahme. Natürlich hätte Trujillo lieber Arier ins Land gelassen, doch als die nicht zu haben waren, nahm er mit Juden vorlieb. Das Land, das ihnen zugedacht werden sollte, lag nahe der Grenze zu Haiti, er brachte es in den Besitz des Staates, der so gut war wie sein Privatbesitz — in seinem Staat war das nicht so genau auseinanderzuhalten —, um es dann über eine Entwicklungsgesellschaft wieder an weiße Siedler zu verkaufen. (Sang- und klanglos verschwand das Projekt. In Wirklichkeit hatte Trujillo nicht mehr als 500 gefährdete Menschen ins Land geholt, nicht aus humanitären Gründen, sondern um das Land „aufzuweißen“, wie eine Emigrantin später bekundete. Weiße Siedler, hinter denen kein Konsul, kein Gesandter, keine Regierung stand, Freiwild also.)

Kurz darauf fand Kornitzer auch eine Nachricht des kubanischen Konsulats in Hamburg (warum nicht der kubanischen Botschaft in Berlin?), daß Kuba bereit sei, deutsche Flüchtlinge aufzunehmen. Die kubanische Regierung wolle die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und Italien erleichtern. Er las die Nachricht einmal, zweimal, dreimal, das war menschenfreundlich gedacht, sie wirkte wie Manna auf ihn. Du mußt nach Hamburg fahren und dich erkundigen, drängte ihn Claire, etwas muß doch klappen. Laß uns zusammen fahren, bat er, aber sie wollte nicht. Vielleicht stehst du besser da als Jurist vor einem Konsul. Das war eine Mutmaßung, auf die er keine Erwiderung wußte. Er las im Philo-Atlas über Kuba: Republik unter dem Protektorat der USA (Verf. v. 12. 6. 1935), bürgerliche Gleichstellung d. Ausländer m. d. Kubanern (Schutz d. Person, d. Eigentums, Genuß d. Grundrechte). Das hörte sich nicht schlecht an. Aber die bittere Pille folgte: Visum, Kapital (mindestens $ 1.500.— pro Person), Landungsdepot USA — $ 500 vor d. Abreise bei Schiffahrtslinie zu hinterlegen.) Wenig Möglichkeiten, evt. Landw. (Plantagenbau) u. einige Handwerksberufe. Ein vor d. Einreise genehmigter Arbeits- od. Anstellungsvertrag ist zur Arbeitsaufnahme erforderlich.