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Man trank den leicht moussierenden, halb vergorenen Ananassaft, wie man anderswo Apfelwein trank, man saß im Schatten oder tagsüber in abgedunkelten Räumen, die Hand war schwer in der Hitze und blieb gerne im Schoß liegen. Man bestellte ein zweites Glas Ananassaft. Ein Mann mit einem Fahrrad kam, er hatte eine Stange Eis unter den Gepäckträger geklemmt, er fuhr das Fahrrad mit so begütigender Langsamkeit, daß es Freude machte, ihm zuzuschauen. Die Stange Eis war mit Zeitungen dick umwickelt, damit sie die Kühle einigermaßen behielt, und trotzdem hatte das Fahrrad eine sanfte, aber noch nicht kritische Tropfspur hinter sich gelassen. Er brachte dem Wirt das Eis hinter die Theke, der hackte es, um es später zu stößeln, verstaute es in der Tiefe und kühlte eine neue Portion Ananassaft damit. Es war ein dösiger Nachmittag, an dem es schwer fiel, an Berlin zu denken, man mußte an einen eisigen Wintertag denken, um zur Besinnung zu kommen. Es war schwer, überhaupt etwas zu denken und sich nicht der erhitzten Mattigkeit zu ergeben. Winzige Schwirrevögel flogen umher mit aufgeregten Federn und dummen, geschwätzigen Schnäbeln, aus denen eine Sprache quoll, die weder den Einheimischen noch den Emigranten in irgendeiner Weise geläufig war. Man mußte mit den Achseln zucken über die Sprachbegierde der Vögel, die ins Leere lief (flatterte?), in die Leere eines heißen, öden Nachmittages, an dem nichts geschah, an dem man sich nichts ausdenken wollte, an dem auch in Wirklichkeit nichts geschehen würde, wenn man vom Geschrei der Straßenhändler absah. Den Händlern zuzuhören, war eine Tat, aber es war auch die Verhinderung eines Tuns, zum Beispiel des Briefschreibens, noch einmal an die alte heimatliche Adresse in Berlin, gleichgültig, ob und wann der Brief ankam, es war eine Tat und gleichzeitig ein beschämendes Versinken in eine Passivität, die in Berlin im allgemeinen und von Claire im besonderen nicht verstanden werden könnte. Und so trank Kornitzer noch ein Glas Ananassaft, und dann hatte er sich selbst überzeugt, die Hand klebte am Papier, so daß er Claire keinen seriösen, keinen liebevollen, keinen werbenden, keinen Anteil nehmenden Brief schicken konnte, und er war bekümmert darüber, aber es war nicht zu ändern.

In der ersten Zeit in Havanna fürchtete er, etwas geschähe. Etwas Fürchterliches geschähe. Zwei Polizisten kämen in seine Unterkunft, prüften seine Papiere noch einmal, wieder einmal und bedeuteten ihm, sie seien nicht gültig. Sie müßten ihn in Gewahrsam nehmen. Und wie dieses Gewahrsam aussah, ahnte er. Oder er schreckte auf in der Nacht, glaubte, er hätte Selma weinen gehört, wollte sich wie in der Cicerostraße ins andere Zimmer tasten und nach ihr sehen. Aber es gab kein anderes Zimmer. Dann vermißte er Claire, ihre Vernünftigkeit, ihre Unabdingbarkeit, von der Tüchtigkeit wollte er jetzt nicht reden, und er ging schon frühmorgens, bevor die Hitze losschlug, zum Hauptpostamt und gab ein Telegramm auf. Komm so bald du kannst Stop Bedingungen einigermaßen Stop In Liebe Richard. Er strich das Wort Bedingungen wieder aus, setzte dafür Konditionen ein, bei einem lateinischstämmigen Wort gäbe es weniger Übertragungsfehler, meinte er. Und dann zählte er auch an den Fingern ab, er hatte keinen einzigen Buchstaben gespart, das war ziemlich sinnlos, aber doch auch ein Prinzip, das am Rand des Sinnlosen seinen wirklichen Sinn gewann. Ja, er hatte Geld aus England transferiert, es könnte bei sparsamem Wirtschaften, so kalkulierte er, drei Monate reichen. Und dann würde er weitersehen, oder Claire wäre da, die immer gute, unternehmerische Ideen hatte. Mit der Quittung über die Aufgabe des Telegramms wanderte er durch die Hitze in die Pension zurück, und die Quittung knisterte wie ein Versprechen von Glück. Die Deutschen hatten nur die Ausfuhr von zehn Reichsmark erlaubt, die Kubaner wollten Landungsgeld sehen und eine Sicherheit zum Vorweisen. Entweder übertrat man die Ausreise-Bedingung und machte sich straffällig, oder man machte sich bei der Einreise gleich schuldig, fiel in ein Loch und wurde zurückgewiesen, dazwischen gab es nichts. Er war gezwungen, sich mit der Kultur des Gesetzbrechens auseinanderzusetzen, nicht indem er richtete, sondern indem er handelte, beziehungsweise das Handeln unterließ.

Gleich nach seiner Ankunft hatte er sich, wie es vorgeschrieben war, beim Registro Nacional de Identificación, Registro de Extranjeros eintragen lassen. Er erhielt eine für ein Jahr gültige Bescheinigung, die er mit fremden Augen ansah und keineswegs verlieren durfte. Er hatte den Rechtsanwalt aufgesucht, el abogado Rodolfo Santiesteban Cino, der vielleicht etwas für ihn tun könnte. Der Rechtsanwalt, der offenbar mit Patenten zu tun hatte. Kornitzer fand die Adresse in Vedado, in einem schachbrettartig angelegten feinen Viertel mit vielen Bäumen und breiten sauberen Straßen, wenn das nicht schon zu viel gesagt war. Sittsame Hunde wurden ausgeführt, und sie bellten nicht, Bäumchen wurden zu akkuraten kleinen Tonnen gestutzt, Rasen wurde gewässert von schwarzen Boys, Vogelkäfige auf einer Veranda wurden gewienert, während die Tiere lautstark gegen die Störung ihres verflatterten Alltagslebens protestierten. Aber es war die Privatadresse, an der er als Bittsteller vollkommen fehl am Platz war, und eine Hausangestellte bedeutete ihm, als er sein Sprüchlein gesagt hatte, wohin er sich, nicht weit vom Kapitol mit seiner Kuppel, die der vom Kapitol in Washington glich, mit seiner Peterskirchenkuppel, wenden solle, nicht weit von den offiziellen Gebäuden, in der Geschäftsgegend. Aber Kornitzer schloß rasch aus dem Fehler: Wenn er eine Privatadresse bekommen hatte in Hamburg, mußte der Kontakt zwischen dem Konsul und dem Rechtsanwalt doch einigermaßen intim sein, freundschaftlich oder gar verwandtschaftlich. Es war ein Instinkt, der Kornitzer dies denken oder besser doch: fühlen ließ. (Daß er Instinkte hatte, wußte er vor seiner Verfolgung noch nicht, insofern war die Verfolgung, auch die Vertreibung ein weitläufiges Lernprogramm, das er niemals freiwillig gewählt hätte. Und dies, obwohl er dem Denken mehr vertraute.)

Kornitzer war nicht ungeschickt und drängte der Hausangestellten eine Karte auf, auf der sowohl seine Berliner Adresse als auch auf der Rückseite handschriftlich die Adresse des Hamburger Konsuls verzeichnet war, der ihn auf die Patente angesprochen hatte. Und er kritzelte seine Adresse in Havanna dazu, die natürlich nicht beeindruckend, aber doch deutlich war. Und natürlich überreichte er die Karte so, daß der Blick der Frau zuerst auf die Hamburger kubanische Adresse fallen mußte, und danach erst auf die des hilfesuchenden Deutschen aus Berlin. Auch das war ein Instinkt. Und auch ein Instinkt war, der Frau einen Geldschein zuzustecken. Daß er das konnte, dankte Kornitzer seiner Mutter, ja, er hätte ihr in der ersten Zeit in Kuba täglich auf Knien danken können, und gleichzeitig sehnte er sich nach Claire und den Kindern.

Es gelang ihm dann am nächsten Tag, das Büro des Rechtsanwalts Rodolfo Santiesteban Cino in der Avenida Agramonte zwischen Capitol und Bahnhof zu finden. Es war in einem Gebäude, das dem ganzen Standard nach nicht dem privaten in der Vorstadt entsprach, Elektroleitungen in einem wilden Gestrüpp im Hof, Regenrinnen, die ins Nirgendwo ragten, die Treppen ausgetreten, mürbe. Im Vorzimmer waren die Stühle hart und die Lehnen sehr schlank und steil aufwärts gerichtet. Er wartete, wartete, und wenn er sich später zu erinnern suchte, welche Menschen mit ihm im Warteraum saßen, wußte er es nicht; so sehr war er auf sich, sein Begehren konzentriert. Wieder richtete er Grüße des Konsuls aus Hamburg aus, wieder einer Frau, ein Flüstern hinter der Tür, ein Räuspern. Und dann stand Kornitzer endlich nach Verbeugungen vor dem Rechtsanwalt Rodolfo Santiesteban Cino. Er war das Ziel, die Sehnsuchtsadresse, seit Kornitzer sein Visum bekommen hatte; Kornitzer hatte sich den komplizierten Namen eingeprägt. Der Rechtsanwalt hatte eine hohe, vornehme Stirn, auf der ein paar Schweißperlen standen, seine Haut war makellos, ruhige Augen, dunkelsamtig wie Oliven. Und am erstaunlichsten war eigentlich sein Haar. Es hatte über der Stirn, an den Schläfen bedauerlicherweise keine Spur hinterlassen, wölbte sich dann aber schwarz, mächtig und lockig von der Mitte des Schädels bis über den Kragen, ringelte sich ein wenig auf dem weißen Kragen. Kornitzer hätte eine solche, beiläufig nach hinten gerutschte Haarfülle vielleicht einem Dirigenten einer Zigeunerkapelle irgendwo in der Welt (aber doch in Europa, so klein war seine Welt!) zugetraut, aber nicht einem Juristen in Mittelamerika, der nun einmal seine einzige Hoffnung war. Sie wechselten ein paar Sätze hin und her aus dem Lehrbuch der Höflichkeit. Der Herr war freundlich, schien nach Kornitzers Ansicht erstaunlich viel Zeit für einen Bittsteller zu haben, Berliner Verhältnisse waren ganz anders gewesen. Und ehe Kornitzer sich’s versah, platzte es aus ihm heraus: das Unglück des Rassismus, das Verjagtwerden aus dem Gericht, die Arbeit in der Lampenfabrik, die Unterbringung der Kinder in England, die Unmöglichkeit, zusammen mit seiner Frau Deutschland zu verlassen. Er wedelte energisch mit seinem Schein, der ihm einen Aufenthalt erlaubte, aber keine Arbeit, es war ein Dammbruch. Kurz gesagt: Er war eine einzige Fleisch gewordene Hilfsbedürftigkeit. Wie sollte es weitergehen, wie, wie? Er sei ja zu jeder Arbeit bereit (das war nicht ganz wahr, die Glühlampenfabrik hatte ihn mürbe gemacht), aber strafbar wolle er sich nicht in dem fremden Land machen, er radebrechte, schwitzte, der Rechtsanwalt half ein wenig mit Nachfragen. Ja, Kornitzer war Richter an einem Zivilgericht gewesen, die Patente, nach denen ihn der Konsul in Hamburg gefragt hatte, erwähnte er nicht. Und auch Santiesteban Cino fragte nicht danach.