Wissen Sie was? fragte der Rechtsanwalt ihn beim Rückweg. Kornitzer ängstigte sich ein bißchen, er würde eine eitle Frage stellen: Wie war ich? Oder: Wie haben Sie mein Plädoyer empfunden? Aber er ließ Kornitzer gar nicht erst zu Wort kommen und sagte: Deutschland, das ist doch ein Land der Präzision. Das mußte Kornitzer einsilbig bestätigen, ohne zu wissen, wohin eine Argumentation führen könnte, die so begann. (Hoffentlich nicht zu den Patenten.) Aber dann schlug ihm der Rechtsanwalt vor, er, der Deutsche, möge doch seine Termine überwachen. Einen Kalender führen, was Señora Martínez wohl für eine überflüssige Angelegenheit hielt. Im Vorzimmer hinge ein Kalender der kubanischen Zuckerrohrwirtschaft mit schönen Bildern, optimistischen Schnittern, Zuckermühlen, romantischen Bildern und Kästchen für jeden Tag. Das heißt, Sie haben keinen Terminkalender? fragte Kornitzer mitleidig. Wozu? fragte der Anwalt. Die Termine purzeln täglich, verkleben, verkleistern sich. Der eine Richter ist unpäßlich, möchte aufs Land fahren, ein anderer verheiratet in einem reifen Zustand seine Tochter, der gegnerische Anwalt begreift, daß er auf weitläufige Weise mit meiner Angestellten verwandt ist, und muß sich ein Plädoyer ganz neu erfinden. Und mir kann es ebenso gehen. Man muß handeln, wenn das Handeln geboten ist. An dieser Stelle versuchte der Rechtsanwalt zum ersten Mal den Namen Kornitzer auszusprechen, es war eher wie das polternde Verenden einer kleinen Dampfmaschine, aber Kornitzer dachte wiederum, daß es ein gutes Zeichen sei, wenn er versuchte, sich seinen Namen zumindest einzuprägen, und er schlug keine Korrektur des Lautstandes vor, tz, tz. Das hörte sich vielleicht für einen Kubaner wie der Stammlaut der Malariamücke an, tz, eine Verscheuchungsgeste und gleichzeitig ein Gesumm. Man mußte als jemand, der mit dieser Lautverbindung durchs Leben oder nun durch eine neue Lebenserfahrung ging, sehr, sehr vorsichtig sein. Also sagte er gar nichts, und in dieser Lücke sprach der Anwalt weiter; offenkundig hatte er selbst diese Lücke gar nicht bemerkt. Noch einmal wiederholte er salbungsvolclass="underline" Man muß handeln, wenn das Handeln geboten ist. (Oder rekapitulierte Kornitzer diesen Satz, weil er ihn als einen grundsätzlichen verstand?) Als eine Lebensregel hörte sich das sehr vornehm und subjektiv an, aber für den Alltag mit Mandanten war das Prinzip, das der Rechtsanwalt aufs Panier hob, nicht wirklich geeignet. Man mußte handeln, um jeden Preis. (Dabei handelte man vermutlich meistens zu spät.) Oder: Man mußte vermeiden, sich in Händel hineinziehen lassen. Auch das war denkbar und ratsam. Was Kornitzer dann sagte, war kryptisch, vielleicht nicht idiomatisch im kubanischen Spanisch, aber auch nicht falsch: Das muß sich ändern, sagte Kornitzer, und er wußte nicht genau, ob er das wirklich auf Spanisch gesagt hatte, zufällig, aus Sprachungeschick. Der Rechtsanwalt nickte und er auch, sie waren sich zweifellos einig. (Aber worin, wogegen? In der besänftigenden oder sich ereifernden Tonlage? In einer Art von Sympathie?)
Als sie in die Kanzlei zurückgekehrt waren und Santiesteban Cino seine zusammengenestelte Robe auseinanderfaltete, servierte Señora Martínez einen scharf gebrühten Kaffee, den sie gemeinsam schlürften. Arbeiten Sie, arbeiten Sie! rief der Rechtsanwalt, und es klang mit dieser Emphase wie ein Wunder. Und Kornitzer kam sich sehr geistesgegenwärtig vor, als er sagte: Ich kann arbeiten, zweifellos, ich möchte arbeiten, aber ich darf keinem Kubaner seine Arbeit wegnehmen. Das tun Sie auch nicht. Sie beraten mich in Fragen der Präzision, der Kalendergenauigkeit. Das kann kein Kubaner. Sie werden ein freischaffender Rechtskonsulent sein, der meiner Kanzlei assoziiert ist. Ich werde Sie um Rat fragen, und Sie werden mir den Rat gegen ein seriöses Honorar entbieten. Haben Sie mich verstanden, Doktor Kornitzer? Der Name war wirklich schwer auszusprechen, und später wurde er vereinfacht oder weggelassen. Kornitzer war der Mann, der manches mitbekam, was auch die anderen Emigranten betraf, der mithörte, mitdachte und wirklich peinlich genau Termine überwachte. Jemand, der initiiert war, aber nicht selbst handeln durfte. Schräg gegenüber der Kanzlei, einen Block weiter, war der Sitz des kubanischen Roten Kreuzes. Kornitzer knüpfte Kontakte, auch zu der Hilfsorganisation Joint, Joint Distribution Committee, hieß der volle Name, und der Joint schien wie ein internationales Füllhorn, ein Rettungsring zu sein. Kornitzer nahm Termine bei der Hilfsorganisation wahr, wenn der Anwalt möglicherweise auch eine Tochter verheiratete oder ohne Gründe einen Tag der Kanzlei fernblieb. Kornitzer entfaltete eine kräftige Kreativität, um Gründe zu erfinden, warum der Anwalt eben gerade nicht anwesend war. (In Deutschland wäre ihm ein solches Verhalten unverzeihlich vorgekommen.) Aber wichtige Termine verpaßte er nicht mehr. Und damit hatte er einen Stein im Brett bei seinen Klienten; es sprach sich herum.
Im nachhinein mußte sich Kornitzer sagen: Daß er sich schwach gezeigt hatte, daß er zusammengebrochen war und nicht mit zusammengebissenen Zähnen sein Unglück ausgestellt hatte, war ein Glück gewesen. Er hatte eine erstaunliche Wohltat erfahren. Er verdiente nicht gut, er war nicht angestellt, aber es kam doch Geld herein, das er ehrenhalber Honorar nennen mußte, und das war nicht schlecht. Er überwachte die Termine, als wäre er ein Bahnwärter, der durchgehende Züge meldete und verspätete monierte. Der Rechtsanwalt, sein Retter, war ihm dankbar für seine preußische Präzision, und er war dankbar für die Rettung vor dem Nichts. Später würde man weitersehen. Später, mañana. Die Zeit war eine spiegelglatte Fläche, auf der man leicht ausrutschte. Frau Martínez blieb verwundert über den Mann im Vorzimmer, dessen Uhr immer genau ging, der auch häufig auf das Zifferblatt schaute und der Kalender anlegte, schon im September für das nächste Jahr. Er war vielleicht ein bleiches Scheusal, in den Augen von Frau Martínez, ein Prinzipienreiter, er hatte sich immer noch nicht an das weiche, schmiegige Kubanisch gewöhnt, bei dem die Enden verschliffen wurden. Aber er war ungefährlich, er tat ihr nichts, und deshalb duldete sie ihn huldvoll an dem neuen, schwächlichen Tischchen, das gegenüber von ihrem Tisch in das Vorzimmer gestellt worden war. Ein Aufpasser über ihre Untätigkeit war er nicht, eher ein Herrscher über ein Gebiet, das nicht auf ihrer inneren Landkarte vorgesehen war. Ein Herrscher über den fortlaufenden, dauernd weglaufenden Kalender. Die Zeit war keine Freundin von Señora Martínez, obwohl sie in der Abwesenheit des Rechtsanwaltes gern mit ihren Freundinnen telephonierte. Und diese oder jene kam auch ins Vorzimmer zu Besuch, tuschelte, kicherte, fraß sich fest auf dem harten Stühlchen und sah Kornitzer irritiert an, wenn er für seine konzentrierte Arbeit ab und zu einmal um Ruhe bat. Währenddessen schaufelte der Ventilator eine Portion heiße Luft über die andere, bis die unterste wieder zum Vorschein kam und sich mit der obersten, der heißesten, mischte.