»Nur anfangs.«
»Wenn Pecek sich auf dem Dach nicht verraten hätte, lägen jetzt Sie da unten. Vom Zustand des Präsidenten will ich gar nicht erst reden.«
»Wäre ich nicht aufs Dach gestiegen, hätten Sie gar nicht erst erfahren, dass Mahder ein Verräter ist«, gab O’Connor ungerührt zurück. »Und mir wäre nicht klar geworden, dass Mahder gelogen hat, was Paddys Einsätze betraf. Bedeutsame Erkenntnisse über das UPS-Gebäude und die Lärmschutzhalle verdanken Sie mir, schon vergessen?«
»Wir haben die Lärmschutzhalle auch ohne Ihre freundliche Hilfe abgesucht«, sagte Lavallier.
»Gut. Patt. Was ist, schließen wir endlich Frieden?«
O’Connor streckte ihm die bandagierte Rechte hin. Lavallier zögerte, dann ergriff er behutsam die Hand des Physikers.
»Wir hatten eigentlich nie Krieg«, sagte er.
»Nein, aber es macht so viel Spaß, sich zu vertragen. Was ist das da?«
»Was meinen Sie?«
»Die Industrieanlage. Das ausgedehnte Gelände.«
»Die Shell-Raffinerie in Godorf«, sagte Lavallier skeptisch. »Aber das sind mindestens zehn Kilometer.«
»Und dahinten?«
»O’Connor, wo bleibt Ihr räumliches Vorstellungsvermögen? Das Lufthansa-Hochhaus ist noch viel weiter weg, der Messeturm ebenso. Als Nächstes kommen Sie mir noch mit dem Dom!«
O’Connor breitete die Hände aus, als wolle er deutlich machen, dass seine guten Gaben alle verteilt seien. Lavallier nagte an seiner Unterlippe. Sie hatten eine ganze Reihe hoher Gebäude in der Umgebung entdeckt, die in Frage kamen. Von einigen hätte man durchaus über die Wälder des Königsforsts hinwegschießen können. Andere wiederum lagen weit jenseits des Flughafens im Bergischen. Eine Fabrik, ein Kraftwerk, ein alter Wasserturm, Sendemasten. Zum Rhein hin verteilten sich mehrstöckige Wohnhäuser wahllos in den Ortsteilen von Porz.
Das Ergebnis ihrer Suche war nicht sonderlich ermutigend. Einige Kilometer weiter kreiste der zweite Hubschrauber. Sie standen miteinander in Funkverbindung und gaben sofort nach unten weiter, was ihnen wert schien, untersucht zu werden. Dennoch würden die Einheiten ewig brauchen, um den Laser zu finden. Falls sie ihn überhaupt fanden. Selbst der dritte Spiegel würde ihnen nur verraten, dass sie dem YAG näher gekommen waren, nicht aber, wo er sich befand.
Immerhin, damit ließ sich leben. Sofern sie alle Spiegel an erhöhten Positionen aufgespürt und zerstört hatten, war der YAG wertlos für die Terroristen.
Aber die Suche am Boden fiel ohnehin nicht mehr in Lavalliers Ressort. Mit dem Helikoptereinsatz hatte Lavallier die Grenzen seiner Befugnisse ausgeschöpft. Sein Revier war die Sicherung des Flughafens und der Politiker, die dort landeten.
Unablässig fragte er sich, wer hinter dem Anschlag stecken mochte. Ganz sicher nicht Martin Mahder. Im Licht der Ermittlungen entwickelte sich der Abteilungsleiter immer mehr zum klassischen Innentäter, der geschmiert worden war oder erpresst wurde. Zu Hause war er bislang nicht eingetroffen. Seine Frau hatte keine Angaben über seinen Verbleib machen können, wahrscheinlich, weil sie tatsächlich von allem nichts wusste. Bei der Gelegenheit war ihnen aufgefallen, dass Mahder ein bisschen feudal wohnte. Wahrscheinlich war er bestochen worden. Der typische Fall. Mahder besaß nicht das Format, eine solche Aktion zu planen. Weder er noch Clohessy oder Pecek.
Vor allem besaß keiner der drei ein Motiv, sah man davon ab, dass Clohessy schon vorher im Terrorismus aktiv gewesen war. Über Pecek hatten sie inzwischen immerhin herausgefunden, dass sein Vater aus Serbien stammte und ein Großteil seiner Familie dort lebte, aber das änderte nichts an den Ergebnissen der ersten Überprüfung. Peceks Lebenslauf blieb untadelig.
Immer vorausgesetzt, dass es überhaupt sein Lebenslauf war.
Und dann war da noch die Sache mit dem verschwundenen Lektor.
Für Lavallier bestand kein Zweifel daran, dass er den Terroristen entweder in die Hände oder zum Opfer gefallen war. Auch nach Kuhn liefen die Nachforschungen mittlerweile auf Hochtouren. Ein Gefühl sagte Lavallier, dass sie – sobald sie den Laser finden würden – auch den Lektor gefunden hätten, und die Vorstellung machte ihm auf unbestimmte Weise Angst.
Er beugte sich zu dem Piloten vor und tippte ihm auf die Schulter.
»Wir brechen ab«, sagte er.
Der Pilot nickte und ging in eine rasante Abwärtsschraube. O’Connor erbleichte und hielt sich unwillkürlich an Lavallier fest.
Das war ja wenigstens mal was!
»Höhenangst?«, fragte Lavallier in übertriebener Besorgnis. »Sie sind doch heute schon mal geflogen. Wenn auch nur drei Meter tief.«
»Der Magen«, japste O’Connor.
»Der Magen.« Lavallier konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Vielleicht sollten Sie auf festkörperreiche Nahrung umschwenken, mein Freund. Man steht so was dann besser durch.«
»Lavallier«, sagte O’Connor schwer atmend, während es weiter abwärts ging, »Sie haben den Sinn und Zweck des Genusses nicht verstanden. Er besteht darin, sich auf hohem Niveau zu ruinieren. Ich bin in dieser Disziplin der unangefochtene Meister. Wollen Sie es mit mir aufnehmen?«
Lavallier dachte darüber nach.
»Nein«, sagte er.
»Schade. Wir könnten viel Spaß dabei haben.«
»Offen gestanden, diese Art Genuss enthält mir irgendwie zu wenig Perspektive.«
»Oh Gott, Lavallier!«, stöhnte O’Connor. »Wie säuerlich! Solange man seinen Mangel an Perspektiven in Champagner ersäufen kann, gibt es keinen Grund, sich welche zuzulegen. Das heißt, ich muss mich korrigieren, eine Perspektive hätte ich anzubieten, falls der Ikarus am Steuerknüppel nicht endlich seinen Sturzflug beendet.«
»Und die wäre?«, fragte Lavallier amüsiert.
»Ihnen den Hubschrauber voll zu kotzen.«
Lavallier sah O’Connor unsicher an.
»Fliegen Sie ein bisschen schonender«, sagte er nach vorne.
Er hätte den impertinenten Doktor gern noch ein bisschen leiden sehen, auch wenn er Bill Clinton tausendmal das Leben gerettet hatte. Aber der Mann war bekanntlich zu allem fähig.
Außerdem begann er, O’Connor irgendwie zu mögen.
SPEDITION
Mahder schickte ängstliche Blicke über die Straße, aber niemand war zu sehen. Das kleine Industriegebiet, mehr eine Industrie-Straße, lag weitestgehend verlassen da. Gegen eine Umzäunung gedrückt, wartete er auf Jana.
Er wusste, dass sie irgendwann eintreffen musste, es sei denn, man hatte sie am Flughafen verhaftet. Aber das war unwahrscheinlich.
O’Connor mochte so ziemlich alles herausgefunden haben, von Jana konnte er unmöglich wissen. Selbst wenn er oder die Polizei zu dem Schluss gelangten, der Attentäter müsse unter den Fotografen zu suchen sein, würden sie bei ihr nichts finden.
Natürlich konnte sie dennoch verhaftet werden. Vielleicht hielt ihre falsche Identität den Überprüfungen nicht stand. Vielleicht hatten sie jemanden, der sich mit Kameras gut genug auskannte, um den winzigen Schlitz zu entdecken, durch den der Chip geschoben wurde.
Vielleicht, vielleicht.
Er wusste nicht einmal, ob das Attentat gelungen war, seit er überstürzt den Flughafen verlassen hatte. Zuerst war er zu einem kleinen Friedhof gefahren, der wenige Straßen von der Spedition entfernt lag, hatte den Wagen unter einen Baum gestellt und sich voller Angst in die Kapelle verkrochen, bis ihm das Warten unerträglich wurde. Er war kein Profi in solchen Dingen. Er wusste, dass man in Fällen wie diesem untertauchte, aber keineswegs, wie man das am besten anstellte, ohne erwischt zu werden.
Sie würden natürlich auch nach seinem Wagen suchen. Das war bitter! Den Wagen konnte er vergessen. Schließlich hatte er sich schweren Herzens entschieden, ihn unter den Bäumen stehen zu lassen. Er würde eben versuchen, sich in den Besitz eines Mietwagens zu bringen, sobald Jana oder Gruschkow ihm das Geld gegeben hatten.