Die Wissenschaft hatte O’Connors Ruf geprägt, und als Wissenschaftler war er weder irisch noch überhaupt in irgendeiner Weise typisch. Die meisten Wissenschaftler, die Wagner kennen gelernt hatte, taten sich mit modischen Akzenten schwer. Sie balancierten Atome auf nanometerspitzen Nadeln, schienen aber faustgroße Beulen und Knitterfalten in Jackett und Hose nicht wahrzunehmen. Jüngere Generationen trugen Jeans und T-Shirt und entsprachen – wie die deutschen Forscher Gerd Binnig oder Horst Störmer – wenigstens ansatzweise dem Bild des akademischen Abenteurers. Eine wissenschaftliche Theorie wurde, wenn sie in sich stimmig war, in der Szene gern als elegant bezeichnet, der dazugehörige Theoretiker war es in den seltensten Fällen. O’Connor im stahlgrauen Armani-Anzug mit abgestimmter Krawatte und gleichfarbigem Hemd, braun gebrannt und perfekt frisiert, widersetzte sich dem einen Klischee in gleicher Weise, wie er das andere provozierte. Was ihm, wie Wagner zugeben musste, beides auf recht eindrucksvolle Weise gelang.
O’Connor, der Physiker, gefiel sich als Aushängeschild des Dublin Trinity, wo er sich seine Sporen verdient und das ihn gefördert hatte. Der Schriftsteller O’Connor war hingegen bekannt dafür, sich mit seiner Heimatstadt anzulegen, wo es nur ging. Damit befand er sich in bester Gesellschaft, was möglicherweise die Triebfeder seiner fortgesetzten Schmähreden darstellte. Jonathan Swift hatte Dublin erbärmlich genannt, W. B. Yeats bezeichnete die Metropole als blind und ignorant, während George Bernard Shaw zumindest von einer gewissen, für Dublin bezeichnenden Verhöhnung und Herabwürdigung sprach. James Joyce bekundete oft genug, er habe die Stadt der Unzufriedenheit, der Boshaftigkeit und des Scheiterns satt bis obenhin und sehne sich danach, weit weg zu sein. Dennoch konnten sie alle nicht von Dublin lassen. Jeder von ihnen vertrat auf seine Art die Paradoxie der Stadt an der Liffey, das Triste und Glitzernde, wie Joyce angemerkt hatte, den heruntergekommenen Wirrwarr, ohne den er dennoch nicht hätte leben und arbeiten können. Worauf immer die Hassliebe gründete, die Irlands Literaten ihrer Stadt entgegengebracht hatten, O’Connor hatte sie aufgenommen und liebevoll kultiviert.
Wagner zweifelte an der Ernsthaftigkeit seiner Verstimmung über den Trümmerhaufen, wie er Dublin nannte. Als wäre ihm nicht sonnenklar gewesen, dass sich hier im zwanzigsten Jahrhundert eine literarische Strömung ersten Ranges herausgebildet hatte, deren Vertreter allesamt ihren Habitus als Dickschädel pflegten, tranken und diskutierten und eher nebenbei zu ihren Meisterwerken fanden. Samuel Beckett, Brendan Behan und der einzigartige Flann O’Brien führten nicht nur mit sportlichem Ehrgeiz Prozesse gegeneinander, sondern waren auch Stammgäste in den Pubs, was ihnen den mythisch überhöhten Ruf begnadeter Trinker einbrachte. Ob O’Connor deshalb soff wie ein Loch, blieb dahingestellt; ebenso, ob überhaupt einer der als versoffen gehandelten irischen Literaten wirklich so viel getrunken hatte. Fest stand, dass kaum ein anderes Volk, insbesondere dessen intellektuelle Kaste, seine eigenen Klischees dermaßen auf die Spitze getrieben hatte wie die Iren. Nicht, weil sie es so wollten, sondern weil sie so waren. Tatsächlich schien Irland das einzige Land der Welt zu sein, in dem sich jedes Klischee bis zur hundertprozentigen Übernahme durch die Realität verwirklichte. So war es nur natürlich, dass O’Connor nicht einfach betrunken, sondern betrunken von irischem Whisky in Wagners Leben getreten war. Und dass er, ganz in der Tradition seiner schreibenden Vorgänger, aufrecht gehend durch sein Delirium schritt, mit einer gewissen Erhabenheit und in völliger Übereinkunft mit sich selbst.
Sie verließen die Lounge und durchquerten den ersten Stock des Flughafens. Köln-Bonn war eine Baustelle. An der Nordostflanke entstand eine neue Welt aus Stahl und Glas. Zu Beginn des neuen Jahrtausends würden Reisende in einem achtzehn Meter unter der Erde angelegten Bahnhof per ICE eintreffen und nach weniger als einhundert Schritten den Check-in passiert haben, um von luxuriösen Sesseln auf das Rollfeld zu blicken. Das Projekt folgte den Erfordernissen. Von der Gemütlichkeit alter Tage war nicht mehr viel zu spüren. Die Passagiere bevölkerten das viel zu kleine alte Terminal wie einen Ameisenbau. Noch war der neue Super-Airport nicht mehr als ein hochtechnisiertes Tohuwabohu, dem seit Anfang des Monats die weltpolitische Elite beinahe täglich die Ehre erwies.
Sie nahmen die Rolltreppe nach unten. O’Connor hatte seit Verlassen der Lounge nichts mehr gesagt.
»Wie war denn der Flug?«, fragte Kuhn endlich und drehte sich um, weil Wagner und der Doktor eine Stufe über ihm standen, während sie nach unten glitten. O’Connor hob die Brauen. Er streckte waagerecht seine linke Hand aus, spreizte Daumen und Zeigefinger ab und begann, sie hin- und her zu bewegen, als fliege sie Kurven.
»Bssssssssss«, sagte er.
»Ah.« Kuhn nickte. »Mhm.«
»Sagen Sie mal, Doktor«, fragte Wagner maliziös, »haben Sie sich eigentlich gut amüsiert in Hamburg? Nachtleben und so?«
Kuhns Augen weiteten sich vor Bestürzung.
»Ich glaube kaum, dass Liam uns darüber Rechenschaft schuldig ist, Kika«, zischte er. »Die ständige Fliegerei ist ausgesprochen anstrengend, wer ist danach schon wirklich frisch! Ich hab zum Beispiel Flugangst. Ich trinke ganz gern einen, wenn der Vogel hochgeht. Ist daran irgendwas auszusetzen?«
»Kika?«, echote O’Connor.
Wagner lächelte. »Mein Vorname.«
»Sie ist…«, begann Kuhn.
»Warum heißen Sie Kika, du lieber Himmel?«, rief O’Connor mit todernster Miene. »In Deutschland heißen die Frauen Heidi oder Gaby. Sie heißen Gaby. Merken Sie sich das.«
»Gehen«, sagte Wagner. »Jetzt.«
O’Connor warf die Stirn in Falten. Im nächsten Moment stolperte er, fing sich und taumelte über das Ende der Rolltreppe hinaus zwischen die Leute, die das Erdgeschoss bevölkerten. Er fluchte auf Gälisch. Kuhn sprang hinzu und ergriff ihn am Arm. O’Connor straffte sich, schüttelte den Lektor mit ärgerlichem Grunzen ab und drehte sich nach allen Seiten um, bis er Wagner erblickte.
»Sie hätten mir ruhig sagen können, dass wir in einen anderen Quadranten kommen«, knurrte er. »Pfui, Uhura! Kirk an Brücke, beamen Sie das Weibsstück in die nächste Singularität.«
Wagner sah zu Kuhn herüber, der mit gespreizten Fingern und hochgezogenen Schultern Hilflosigkeit bekundete.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Draußen ist alles voller Klingonen. Sie wollen mich doch nicht im Ernst da rausschicken.«
»Doch«, erwiderte O’Connor und schürzte die Lippen. »Aber erst fahren wir ins Hotel.«
»Sehr gern.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Wagner steuerte die gläsernen Flügeltüren an, die nach draußen zu den Taxis führten. Es war geplant, dass Kuhn mit O’Connor eine Limousine nahm und einen Abstecher über den Neumarkt zu einer der dortigen großen Buchhandlungen machte, wo O’Connor einhundert Bücher signieren sollte. Wagner wünschte, sie hätten die Bitte der Buchhandlung abschlägig beschieden, aber es war nicht mehr zu ändern. Sie selbst würde mit dem Golf ins Maritim fahren, wo sie O’Connor einquartiert hatten, dort sein Zimmer inspizieren und dem weiteren Verlauf des Tages entgegensehen. Das konnte heißen, mit O’Connor wie geplant den Dom zu besichtigen und möglicherweise zu ersteigen, was nicht sonderlich originell, aber für ausländische Besucher unabdingbar war. Es konnte ebenfalls heißen, den Nachmittag freizunehmen. O’Connor in seinem Zustand den Dom hinaufzuverfügen, gehörte zu den Dingen des Lebens, deren Wahrscheinlichkeit gegen null strebte. Sie konnten froh sein, wenn er es pünktlich um 19.00 Uhr ins Physikalische Institut der Kölner Universität schaffte. Zwar war der eigentliche Zweck der O’Connor’schen Tournee, sein neues Buch vorzustellen, aber das Institut hatte die Gelegenheit ergriffen, ihn zu einem Fachvortrag einzuladen. Immerhin war O’Connor soeben für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, weil er das Licht gebremst hatte. Was auch immer das im Klartext hieß.