»Und?«, fragte O’Connor ernst. »Was soll ich da?«
»Nichts«, sagte Wagner. »Wir können auf den Dom klettern. Er ist direkt um die Ecke.«
»Ich selbst«, fügte Kuhn hastig hinzu, »bewohne die 344. Wenn Sie irgendetwas brauchen, ich werde die nächste Viertelstunde dort sein und mich frisch machen. Rufen Sie einfach an.«
O’Connor holte aus und schlug ihm jovial auf die Schultern.
»Das würde ich, Kuhn, alter Junge, wenn Sie rote Locken und die Titten von Lollo Ferrari hätten.«
Kuhn bekam knallrote Ohren.
»Ich kann… äh… sehen, was sich machen lässt. Habe ich Sie richtig verstanden, dass .«
O’Connor beugte sich zu ihm vor, wankte leicht und schnüffelte.
»Was ist das für ein Aftershave? Irish Moos? Wollen Sie sich beliebt machen?«
»Hey, Liam! Das reicht nun wirklich!«
»Ich bin Ihr Zugpferd. Was reicht, überlassen Sie bitte mir. Du lieber Gott, wie Sie stinken! Ich werde mich wohl heute Nachmittag im Bett aufhalten müssen. Gaby, will sagen, Kika… wo sind Sie denn? Ah! Ich glaube, Ihr Freund Kuhn hatte ein paar Gläser zu viel. Er kann kaum gerade stehen. Bringen Sie mich aufs Zimmer?«
»Wenn Sie in den ersten Stock fahren –«, begann Wagner.
»Wenn Sie in den ersten Stock fahren«, unterbrach sie O’Connor, »komme ich vielleicht mit. Ansonsten gehe ich an die Bar.«
Wagner registrierte etwas in ihrem Innern, das hochdrängte und sich Luft machen wollte. Sie zwang es zurück und nickte.
»Gut. Gehen wir.«
Kuhn holte den Aufzug. Sie fuhren nach oben und schritten den Gang entlang, der zu O’Connors Suite führte.
»Wie groß sind Sie denn?«, wollte O’Connor wissen.
»Zu groß für Sie«, gab sie mit zuckrigem Lächeln zurück.
»Das würde ich nicht sagen!«, protestierte O’Connor, zog den Kopf ein und sah mit Hundeblick zu ihr auf. »Ich bin eins vierundachtzig. Eigentlich bin ich sogar eins sechsundachtzig. Ich war immer eins sechsundachtzig.«
»Und warum sind Sie jetzt zwei Zentimeter kleiner?«
»Letztes Jahr hat mein Arzt behauptet, ich sei eins achtzig. Ich war längere Zeit nicht bei ihm. Wir haben sehr über das Thema gestritten und uns dann auf eins vierundachtzig geeinigt. Glauben Sie die Geschichte?«
»Nein.«
»Sie ist aber wahr. Der Mensch wird kleiner im Alter. Es gibt noch Hoffnung für Sie, Kika.«
Kuhn schloss Zimmer 108 auf und bugsierte O’Connor hinein.
»Sie sollten sich ein bisschen ausruhen«, schlug Wagner vor. »Um sieben sind Sie im Physikalischen Institut.«
»Ach, das.« O’Connor drehte seine Rose hin und her, tappte unentschlossen zu seinem Gepäck, zupfte an seiner Golftasche und bemerkte den Whisky auf der Anrichte unter dem Spiegel. Seine Augen weiteten sich.
»Glenfiddich«, sagte er.
Kuhn warf Wagner einen giftigen Blick zu. Sie fühlte sich unbehaglich. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihm die Flasche aufs Zimmer zu stellen. Wenn O’Connor auf die Idee kam, das Zeug jetzt in Angriff zu nehmen, konnten sie das Physikalische Institut gleich absagen.
Immerhin, dachte sie. Volltreffer. Er ist ehrlich ergriffen.
»Glenfiddich«, wiederholte O’Connor leise. Er legte die Rose auf die Anrichte, nahm die Flasche in beide Hände und schüttelte den Kopf. »Ich werde diese Flasche unverzüglich leeren müssen.«
»Ich würde das keinesfalls tun!«, rief Kuhn entsetzt.
»Doch. Genau das werde ich.«
Er drehte den Verschluss auf und schlurfte ins Bad. Sie hörten ein gluckerndes Geräusch. Wagner fragte sich, was er da machte. Sie ging ihm hinterher und sah, dass er den kompletten Inhalt in den Ausguss leerte.
»Diese Schwachköpfe«, fluchte O’Connor leise. »Was glauben die, wer ich bin? Wollen die mich beleidigen? Kaufhausplärre! Exportpisse! Die mieseste Brühe, die sich je von Schottland in die Welt verirrt hat, und mir stellen die so was hin. Vor nicht ganz hundert Jahren hätte man den Überbringer darin ersäuft, für nichts anderes ist der Fusel gut.«
Kuhn betrachtete Wagner mit anzüglichem Grinsen.
»Danebengegriffen, Frau Kollegin?«
»Halten Sie bloß die Klappe.«
O’Connor kehrte aus dem Bad zurück und gähnte. Er sah aus, als würde er jeden Moment zu Boden gehen.
»Ich werde mich hinlegen. Manchmal ist die Realität einfach viel zu realistisch. Wann müssen wir in dieses lächerliche Institut?«
»Kuhn holt Sie um halb sieben ab«, sagte Wagner.
»Wann ist der Vortrag?«
»Um sieben. Es wäre hilfreich, wenn Sie ein paar Minuten vorher eintreffen.«
»Du lieber Himmel«, stöhnte O’Connor und ließ sich der Länge nach auf das Bett fallen. »Pünktlichkeit ist etwas Schäbiges. Albern und gewöhnlich. Sie stiehlt einem die Zeit, hat Oscar Wilde gesagt, und er hatte in jeder Beziehung Recht. Die Großzügigkeit der Autisten. Jeder Idiot kann pünktlich sein. Wecken Sie mich gegen sieben, dann sehen wir weiter.«
»Halb – sieben«, sagte Wagner mit Nachdruck.
»Na schön.« O’Connor deutete auf die Rose. »Ist das nicht seltsam? Kluge Frauen sind oft von bemerkenswerter Hässlichkeit. Sie nicht, das ist noch viel bemerkenswerter. Nehmen Sie die mit, sie kommt von Herzen.«
»Danke«, sagte Wagner im Hinausgehen. »Aber ich pflege mich nach Komplimenten nicht zu bücken. Dafür bin ich zu groß.«
Sie verließ das Maritim, ging zu ihrem Wagen und sammelte sich einen Moment. Wieder drängte das Etwas in ihr hoch. Sie ließ es passieren, und zu ihrer Verblüffung entpuppte es sich als Gelächter.
Was sie bis jetzt erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was O’Connor möglicherweise noch an Überraschungen bereithielt. Immerhin hatte er in Hamburg den Großteil seiner Termine entweder nicht wahrgenommen oder war verspätet erschienen. Schlimm genug, aber immer noch harmlos gegen die Schlägereien, die er sich in unregelmäßigen Abständen lieferte. So wie im Vorjahr in Bremen. Angeblich – und diese Version unterstützte der Verlag ebenso wie die damals ermittelnde Polizei – hatte ein Geschäftsmann in der Szenebar, die O’Connor gegen ein Uhr morgens betreten hatte, ihn aufs übelste beleidigt und schließlich attackiert. Wer wem zuerst eine reingehauen hatte, ließ sich hinterher nicht mehr mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber der Geschäftsmann musste mit gebrochener Nase verarztet werden, während O’Connor lediglich über Schmerzen in seinen Fingerknöcheln klagte. Das Objekt des Streits, hieß es, sei der einzige freie Barhocker gewesen, den der eine wie der andere zur gleichen Zeit erspäht und angesteuert hatte. Allen Beteiligten war die Sache furchtbar peinlich, bis auf O’Connor selbst, der sich in dem Schlamassel offenbar gut amüsierte. Wie auch nicht? Jedes Mal, wenn er sich schlug, schien ein höherenorts getroffenes Agreement in Kraft zu treten, das ihn von jeglicher Schuld freisprach und gnädig übersah, dass der Physiker in mindestens der Hälfte aller Fälle den ersten Treffer gelandet hatte.
Wie auch immer.
Sie startete den Golf, legte einen Gang ein und ließ den Wagen am alten Messegelände vorbeirollen. Ihr blieb ausreichend Zeit, ein paar Einkäufe zu erledigen und ihre Eltern zu besuchen, um ihr Gepäck dort loszuwerden. In den nächsten Tagen würde sie dort schlafen.
Sollte Kuhn sich um O’Connor kümmern, falls der Physiker nicht wie versprochen ins Koma fiel.
1998.13. DEZEMBER. PIEMONT. LA MORRA
Jana saß über Bergen von Unterlagen und verfluchte den Verfall der guten Sitten im Geschäft des Tötens.
So merkwürdig es klingen mochte – der Terror hatte seine Unschuld eingebüßt. Lange Zeit waren die Gruppierungen bemüht gewesen, die Waage zwischen akzeptabler Gewalt und Gewaltfreiheit zu halten. Man legte Wert auf die Feststellung, nur ausgemachte Lumpen zu bekämpfen. Das Hineinziehen Unschuldiger sei unethisch. Gewalt habe sich gegen den Staat zu richten, nicht gegen die Bürger, für die man das ganze unerfreuliche Geschäft ja letzten Endes auf sich nehme.