Das war natürlich in die Tasche gelogen. Wen man symbolisch um die Ecke brachte, der war trotzdem tot. Dennoch war es eben diese Schwammigkeit zwischen Eskalation und Ethik, die dem Terrorismus mitunter Sympathien auf breiter Ebene eintrug. In letzter Konsequenz ging es darum, Anhänger zu gewinnen, die keine Terroristen waren. Man erzwang die Bereitschaft zuzuhören, um sie dann sinnvoll zu nutzen, Nachdenklichkeit und Sympathie zu erzeugen und seine Lobby zu vergrößern. Organisationen wie PLO, IRA und ETA wussten zeitweise sehr genau, wie weit sie gehen konnten, um mit dem Märchen vom Symbol noch durchzukommen und einmal gewonnene Anhänger nicht wieder zu verschrecken. Ob die Öffentlichkeit nun wollte oder nicht, sie begann, sich mit den Problemen Nordirlands, der Basken und der Palästinenser zu beschäftigen und Verständnis dafür zu entwickeln. Man konnte dem Terrorismus vorwerfen, er sei menschenverachtend und brutal, aber im Resultat seiner Bemühungen hatte er sich hin und wieder legitimiert. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Jassir Arafat war dafür das beste Beispiel.
Dann, 1995, kam der Schock. Die Freisetzung des tödlichen Nervengases Sarin in der Untergrundbahn von Tokio durch die Aum-Sekte setzte über Nacht alle Statuten der Terrorismusforschung außer Kraft. Offenbar gab es Gruppierungen, die aus unerfindlichen Gründen wahllos Massen von Menschen töteten, je mehr, desto besser. Hatten die meisten Terroristen bis dahin eine Abneigung gegen Massenvernichtungswaffen gezeigt und beinahe konservativ mit Pistole und Nagelbombe operiert, wurde nun der Exodus der Menschheit propagiert, inspiriert von einem mystischen, fast transzendentalen, göttlich inspirierten Gebot.
Wie es aussah, war der internationale Terrorismus in eine Phase erhöhter Gewalttätigkeit und gesteigerten Blutvergießens eingetreten, die auf diffusen religiösen und rassistischen Maximen gründete. Die Frage, was diese Organisationen überhaupt wollten, wurde nur noch übertroffen von der Ratlosigkeit hinsichtlich ihrer Mitglieder. Das Schlimmste schien jedoch zu sein, dass den Massenmördern offenbar jede Form von High-Tech und gewaltige Summen Geldes zur Verfügung standen und dass sie sich professioneller Killer bedienten, die ebenso wenig eine moralische Grenze zogen wie ihre Auftraggeber.
Die Welt rieb sich die Augen und verfiel in hektische Aktivität. Als hätte man der Probleme nicht genug, dämmerte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch noch der Schwarzmarkt für Atomwaffen herauf. Internationale Krisenstäbe tagten. Ein Abkommen zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit jagte das nächste. Der Schrecken vor dem Schrecken setzte ein globales Planspiel in Gang. Was kam als Nächstes? Chemischer Regen? Nukleargewitter? Kaum einer, der nicht mit sentimentaler Wehmut an die guten alten Flugzeugentführungen und politischen Morde zurückdachte, als Terroristen eigentlich noch nette Menschen waren, vielleicht mit einem etwas übersteigerten Empfinden für Symbolik. Die Zukunft lag im Dunkel. Alles konnte passieren. Nichts war abwegig genug, um nicht gedacht zu werden. Nichts, was nicht im Bereich des Möglichen lag.
Nichts, wogegen man sich nicht zu wappnen suchte.
Nur so war es zu verstehen, dass Jana am Abend des 13. Dezember 1998 bei einer Flasche Nebbiolo d’Alba Überlegungen anstellte, die weit über das gewohnte Instrumentarium des traditionellen Terrorismus hinausgingen. Ohne die Signale, die vom Wahnsinn der Sekte Aum Shinrikyo ausgegangen waren, hätte sie sich nicht mit einem Sicherheitsdenken herumschlagen müssen, das kaum noch Raum für bewährte Waffensysteme ließ und jeden Erfolg in den Bereich der Utopie rückte.
Wer zu dieser Zeit an dem Haus in den piemontesischen Bergen vorbeifuhr, wäre nie auf die Idee gekommen, was die angesehene Unternehmerin Laura Firidolfi dort gerade ausbrütete. Es lag ruhig und friedlich da. Aus dem großen Arbeitszimmer drang das Licht der Schreibtischlampe, die Janas Gedanken einsam beleuchtete. Über den
Berg von Kladden, Dokumentationen und Fachbüchern hinweg konnte sie auf die Lichter von La Morra schauen, dessen Silhouette den Hügelkamm zackte. Hin und wieder tauchten die Finger von Scheinwerfern in der Dunkelheit auf, verklangen Motorengeräusche. Die Kälte trieb Nebel in die Weinstöcke. Ein Ort für Geistergeschichten war das, nicht für schweißtreibenden Terror.
Jana war eine Weile spazieren gegangen und hatte die winterliche Luft eingesogen. Im Allgemeinen kamen ihr die Ideen eher nebenbei. Ansatzpunkte fand sie schnell, Zeit kostete die Verfeinerung. Sie schöpfte aus einem reichhaltigen Repertoire und individualisierte die Methode ihrer Wahl im Laufe weniger Stunden. Der Rest war Routine, beinahe langweilig. Ein Gewehr blieb ein Gewehr, eine Pistole eine Pistole. Selbst wenn es sich um Einzelstücke handelte, die eigens für den einen Moment angefertigt wurden, den sich manche ihrer Arbeitgeber bis zu einer Million kosten ließen.
Diesmal war es anders.
Seit Tagen wartete sie darauf, dass sich die Initialzündung einstellte, sich die alles entscheidende Datei in ihrem Kopf öffnete und ihre Geheimnisse preisgab. Im Bewährten fand sich keine Lösung. Wieder und wieder war Jana den Tag durchgegangen, an dem sie sich ihrer fünfundzwanzig Millionen als wert erweisen musste. Immer wieder endete sie in einer Sackgasse. Error. Der Fehler 5 ist aufgetreten. Sichern Sie Ihre Daten. Schließen Sie das Fenster. Versuchen Sie ein anderes Programm. Neustart.
Es wäre halb so wild gewesen, wenn Mirkos Hintermänner die Randbedingungen nicht so eng geschnürt hätten. Aber Ort und Zeit lagen genau fest. Sie wollten es in diesem einen Augenblick, und sie wollten es so, dass es der Welt den Atem verschlug.
Die Quadratur des Kreises.
Wie immer die Lösung aussah, sie würde von bestechender Logik und zugleich vollkommen abstrus sein müssen. Etwas so Unglaubliches, dass selbst die ausgefuchstesten Sicherheitsleute nicht darauf kommen würden.
Ihr Blick wanderte zu der Uhr auf ihrem Schreibtisch. Allmählich fühlte sie Müdigkeit in sich aufsteigen. Es war Viertel vor drei am Morgen. Mittlerweile schnitten keine Scheinwerferkegel mehr durch die Hügel, und die Lichter von La Morra waren verlöscht bis auf einige Straßenlaternen. Jana stand auf, reckte die Gliedmaßen und fühlte eine leichte Verspannung in ihrer linken Schulter.
Das war nicht gut. Sie konnte sich keine körperlichen Ausfälle gestatten. Weder nach stundenlangem Sitzen noch nach durchgearbeiteten Nächten. Sie würde ihr tägliches Sportprogramm überdenken und vielleicht den Masseur wechseln müssen. Sie hatte zweimal mit ihm geschlafen und seitdem den unbestimmten Verdacht, dass der Druck seiner Hände einer albernen Zärtlichkeit gewichen war, wenn er sie anfasste.
Gähnend ging sie hinüber zu der Konsole mit den CDs, wählte Space Oddity von David Bowie und gestattete sich einen letzten Schluck von dem Nebbiolo. Das Glas in der Hand, trat sie bis nah ans Fenster und sah hinaus, so wie sie es immer tat, wenn sie Ratlosigkeit verspürte.
Im Unerwarteten liegt die Chance.
Wer hatte das noch gesagt? Irgendeiner von den Iren? Vermutlich. Sie hatten schon so viele kluge Dinge gesagt. Die Iren waren wirklich gut.
Leicht enerviert ging Jana zurück zum Schreibtisch, stellte das Glas ab und langte mit der Hand nach dem Schalter der Lampe.
Mitten in der Bewegung verharrte sie.
Ihre Hand schwebte einen Moment lang in der Luft und sank dann langsam herunter, während ihr Blick fasziniert auf das Glas gerichtet war. Im letzten Rest des Nebbiolo brachen sich die Lichtstrahlen und erzeugten funkelnde Kaskaden von intensivem Hellrot.
Die Lösung lag im Wein.
Nein, das war tatsächlich zu abstrus. Am besten, sie verschwendete keinen weiteren Gedanken an die Sache und legte sich schleunigst schlafen.