Wagner versuchte, dem Vortrag zu folgen. Am Ende hatte sie begriffen, dass es O’Connor gelungen war, Licht tatsächlich für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde abzubremsen und zu speichern – nach Lichtmaßstäben eine Ewigkeit. Ungehindert wäre der Lichtimpuls in der Zeit schon zehn Kilometer weitergeeilt. Sie fragte sich, wozu das gut sei. Schieder hätte wahrscheinlich gekontert, um ultraflache Fernseher zu erfinden oder Penicillin. Sie überlegte, ob es für ihre Pressearbeit unabdingbar war, die Aussagen ihrer Autoren bis ins Kleinste zu verstehen, und entschied sich für ein klares Nein.
Neben ihr gewann Kuhn wieder an Farbe.
Dann war der Vortrag zu Ende, und es durften Fragen gestellt werden. Wenige Minuten noch, um auf Fachchinesisch mit Fachchinesisch zu antworten. Wagner entspannte sich. Viel konnte eigentlich nicht mehr passieren.
So jedenfalls hatte sie sich die Sache vorgestellt. Bis diese rosen- wangige Studentin mit feuchtem Blick ankündigte, persönlich werden zu wollen!
Kuhn wechselte erneut die Farbe. Ein Chamäleon war nichts gegen ihn. Er richtete den Blick zuerst auf Wagner und dann auf die Studentin. Seine Lippen formten eine stumme Bitte.
Zu spät.
»Dr. O’Connor, Sie haben uns alle hier sehr beeindruckt. Aber dann dachten wir uns, also… ähm… selbst jemand wie Sie muss doch irgendwo einen Schwachpunkt haben. Eine kleine menschliche Schwäche. Also raus mit der Sprache! Was ist Ihr größter Fehler?«
Sie sah ihn keck an und klimperte mit den Augen. O’Connor verbreiterte sein Lächeln.
»Fragen wie diese zu beantworten«, sagte er.
Schieder seufzte und kratzte seinen Bart.
An dieser Stelle hätte die Studentin dem Treibsand von O’Connors Boshaftigkeit vielleicht entrinnen können, wenn sie einfach das Thema gewechselt hätte. Aber sie schien wie gebannt. Ihr Blick zeigte immer noch die naive Verliebtheit, mit der sie den Physiker ange- himmelt hatte, allerdings sagte ihr der Verstand, irgendetwas sei gerade dumm gelaufen. Das Ergebnis war ein Gesichtsausdruck von seltener Hilflosigkeit.
Dann beging sie ihren Kardinalfehler und fragte: »Warum?«
O’Connor stieß ein leises Zischen der Resignation aus, als könne er das Ausmaß an Dummheit nicht begreifen, mit dem ein offenkundig Geschlagener weitere Niederlagen herausfordert.
»Sehen Sie«, sagte er geduldig, »prinzipiell könnten Sie ein Buch lesen. Ich könnte in derselben Zeit Golf spielen oder arbeiten oder eines dieser Bücher schreiben, die Sie lesen sollen. Andererseits erzähle ich Ihnen gern persönlich, was Sie ohnehin schon wissen. Aber spätestens dann erwarte ich eine Auseinandersetzung, die mir das Vorhandensein von Geist anzeigt, von intelligentem Leben. Stattdessen stellen Sie niedliche Fragen. Darf ich mich erkundigen, was Ihre ganz persönlichen Ziele im Leben sind?«
»Das… weiß ich noch nicht.«
»Dann lassen Sie sich einen Rat geben. Hören Sie auf, Menschen zu vergöttern. Haben Sie Mitleid. Widmen Sie sich der Sache.«
»Das habe ich getan«, stammelte die Studentin. Allmählich dämmerte ihr, dass O’Connor sie maßregelte. Außerdem stahl sich nun doch eine gewisse Schwere in die Aussprache des Physikers, die seinem Tonfall etwas Süffisantes und Verächtliches gab. »Ich vergöttere niemanden!«, rief sie. »Ich käme gar nicht auf die Idee, Sie zu vergöttern. Ich versuche, mehr über Menschen zu erfahren, die bewundernswerte Leistungen vollbracht haben. Ist das so schlimm?«
»Nein. Problematisch sind Huldigungen immer nur für den, der sie entgegennehmen muss. Glauben Sie mir, Heldenverehrung ist etwas, woran mindestens einer keine Freude hat, und das ist der Held. Die Menschen quälen ihre Götter. Sie beten, weil sie etwas von ihnen wollen. Lesen Sie meine Bücher, und wenn Sie mich in irgendeinem Pub aufstöbern, wo wir uns im Stande sehen, eine garantiert wissenschaftsfreie Zone auszurufen, dürfen Sie mich getrost nach meinen schwachen Seiten aushorchen. Hier sind wir an der Uni. Nächste Frage.«
Die Studentin warf einen hilflosen Blick auf ihren Zettel.
»Was tun Sie am liebsten, wenn Sie nicht forschen?«
»Schreiben.«
»Und wenn Sie nicht schreiben?«
»Trinken. Das waren jetzt drei Fragen. Sollten Sie sich mit der Absicht tragen herauszufinden, warum ich ledig bin, ist es nicht Ihretwegen. Möchten Sie eine Familie?«
»Wie bitte?«
»Ich bin tatsächlich der Meinung, dass man eine Eignungsprüfung ablegen müsste, wenn man vorhat, sich ein Studium finanzieren zu lassen. Alle, die große Pläne nur hegen, bis sie sie gegen ein paar Phonstärken Babygeschrei eintauschen können, sollten die Haushaltsschule besuchen und der Forschung nicht auf der Tasche liegen.«
»Aber…«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Doch, ich…«
»Sie sagten, Sie wissen nicht, welche Ziele Sie haben. Das ist bedenklich. Wollen Sie Kinder?«
Sie starrte O’Connor an, als sei er der fleischgewordene Mr. Hyde.
»Ich denke schon.«
Er beugte sich vor. Sein Ton war jetzt wieder freundlich, beinahe milde. »Ich sage Ihnen, was Sie wollen, meine Schöne. Sie haben ein Herz aus Gold, da bin ich sicher. Aus purem Gold. Das hätten Sie gern in kleine Münze umgewechselt. Nun, in spätestens drei Jahren werden Sie jemanden finden, der das tut. In Münzen, für die man alles kaufen kann, was das Leben nett macht, ohne es zu erhöhen. Willkommen in der Mittelmäßigkeit.«
O’Connor nahm den Blick von ihr, als habe sie aufgehört zu existieren, und wandte sich an alle. »Michael Collins, der arme Mann, der nicht auf die Mondoberfläche durfte, weil einer ja im Schiff bleiben musste, hat einmal von seiner Frau gesagt, es habe ständig Streit gegeben wegen der Weltraumgeschichten. Sie verstand einfach nicht, wie jemand zum Mond fliegen kann, solange zu Hause das Geschirr nicht abgewaschen ist. Die meisten hier werden sich ihre Träume und Visionen über kurz oder lang für einen muffig warmen Platz im bürgerlichen Mittelstand abkaufen lassen. Und warum? Weil sie versuchen, jemand zu werden, den es schon gibt, und das klappt nicht. Ein zweiter Einstein, ein zweiter Hawking, ein zweiter was weiß ich, wer. Sie vergessen dabei, dass Einstein kein zweiter Irgendwer werden wollte, sondern nur ein besserer Einstein. Das ist Ihr Problem und das Problem deutscher Forschermentalität. Sie alle hier würden liebend gern die Erfindungen machen, die andere schon gemacht haben, aber leider fehlt es den meisten von Ihnen an der irritierenden Substanz des Visionären. Irgendwann stellen Sie fest, dass Sie jedes Standardwerk rauf- und runterleiern können und sich selbst durch einen eklatanten Mangel an Inspiration ausweisen. Die Gelehrten des Mittelalters, als die Aufklärung dem Mystizismus den Kampf ansagte, bekannten sich auch nicht gerade zum Bruch mit den großen Alten, mit Aristoteles, Platon, Demokrit. Aber wenigstens empfanden sie sich als die Zwerge auf den Schultern der Riesen. So konnten sie von einer etwas höheren Warte wiederum ein wenig weiter in die Welt hinausblicken und die nächste Generation von Zwergen wieder ein bisschen weiter. Und was tun Sie? Sie lernen all dieses Zeug, Sie lernen es auswendig, und Ihre Professoren bewerten
Sie danach, wie sehr Sie genetisch nach dem Papagei schlagen. Solange Wissenschaft repetitiv bleibt, ist sie keine, wollen Sie das bitte begreifen? Solange Sie im Verlauf einer Stunde wie dieser keine anderen Fragen an jemanden wie mich haben, als was ich gern esse oder wo ich mich kratze, wenn’s mich hinten juckt, enden Sie vor Quizsendungen im Fernsehen. Wozu hören Sie sich aus meinem Mund an, was Sie alles bereits wissen? Wie oft wollen Sie den Rosenkranz des schon Dagewesenen herunterbeten? Forschen Sie! Stellen Sie in Frage! Zweifeln Sie! Zweifeln Sie an mir! Fragen Sie mich etwas wirklich Unbequemes. Solange Sie das nicht schaffen, wird die männliche Hälfte von Ihnen in der angewandten Forschung enden und die weibliche Hälfte ihren Männern das Gefühl geben, Berge versetzen zu können, um sie nach erfolgter Heirat daran zu hindern, es zu tun. Nächste Frage.«