»Eben«, sagte Gruschkow. »Hier liegt das Problem. Sie wissen das Notwendigste. Auf der Basis kann man Science-Fiction produzieren.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass Ihnen das gelungen ist.«
»Es ist mehr als Science-Fiction.«
»Augenblicklich nicht.«
»Ich will einfach nur wissen, ob es völlig ausgeschlossen ist.«
Gruschkow kratzte seinen Schädel. Ricardo schüttelte skeptisch den Kopf, sagte aber nichts. Er griff nach dem Dossier und schlug es auf. Es war das dritte Mal, dass er das an diesem Vormittag tat. Jana schwieg und wartete. Ihretwegen konnten sie es lesen, so oft sie wollten. Sie hatte keine Eile.
Für die Dauer weiterer Minuten war nichts als das Rascheln der umgeblätterten Seiten zu hören.
»Also, ich bin ja nun überhaupt kein Fachmann«, sagte Ricardo schließlich hilflos. »Ich kann nur mein Gefühl sprechen lassen. Ebenso gut hätten Sie schreiben können, dass Sie sich beamen lassen wollen. Ich glaub’s einfach nicht.«
»Ich bin auch kein Experte«, sagte Gruschkow. »Jana will wissen, ob es grundsätzlich machbar ist. Darauf lässt sich antworten, dass es mit der Machbarkeit eines Mondfluges vor zweihundert Jahren auch nicht gerade weit her war.« Er stand auf und begann im Raum umherzugehen. »Das Problem ist, es gibt Dinge, die sind grundsätzlich nicht machbar oder nur nicht in ihrer Zeit. So gesehen ist es zumindest nicht ganz ausgeschlossen. Es klappt im Modellversuch wahrscheinlich spielend. Alle mit einbezogenen Faktoren auf ein Zwanzigstel ihrer Größe reduziert und in einem hermetisch abgeschlossenen Umfeld angeordnet, das könnte gehen. Wenngleich ich noch nicht weiß, wie wir ein bewegliches Ziel mit einem derart starren System treffen sollen. Die Crux ist, dass wir es mit dem wahren Leben zu tun haben, das ist ganz was anderes. Ich weiß nicht, ob so etwas in derartigen Dimensionen je gemacht worden ist.«
»Die Amerikaner haben es gemacht«, sagte Jana. »Russland übrigens auch.«
»Das ist was anderes. Ich weiß, worauf Sie anspielen.« Gruschkow blieb stehen. »Aber es war ein Heidenaufwand. Und sie haben es auch nur in der blitzsauberen Simulation geschafft. Es ist ScienceFiction, darüber müssen wir uns im Klaren sein, bevor wir weiter an der Idee arbeiten.«
Jana wies mit einer umfassenden Geste auf die Computer ringsum. »Das alles hier ist Science-Fiction«, sagte sie. »Wir können nicht in entfernte Regionen des Universums reisen, weil wir nicht wissen, ob es einen Weg gibt, die Naturgesetze auszutricksen. Bleibt der Glaube, dass irgendwann jemand dahinterkommen wird, wie’s geht. Wurmlöcher, Quantentunnel. In unserem Fall liegen die Dinge anders. Wie es geht, wissen wir. Wir haben keinerlei Verständnislücken. Wir müssen nichts erfinden, was nicht schon da wäre. Die Frage ist einzig, wie wir es uns zunutze machen.«
»Ihr Rechenbeispiel bezieht sich auf die erforderliche Leistung unter Einrechnung der Entfernung«, sagte Gruschkow stirnrunzelnd. »Mir ist schon klar, dass wir die nötige Kraft entfesseln können, aber ist Ihnen bewusst, wie riesig das Ding sein wird, das wir brauchen? Wie wollen Sie etwas so Großes mitten in eine Hochsicherheitszone bringen?«
»Gar nicht. Ich schätze, die Hochsicherheit spielt sich in einem Radius von ein bis maximal zwei Kilometern ab.«
»Sie gehen von zwei bis drei Kilometern aus.«
»Nötigenfalls auch mehr. Ich denke, wir sind bis zu fünf Kilometern auf der sicheren Seite. Danach geht’s immer noch, wird aber eng. So oder so können wir einen Gegenstand dieser Größe außerhalb der Sicherheitszone platzieren, ohne dass es auffällt.«
»Sie werden auf die Distanz Probleme mit Umwelteinflüssen bekommen. Aber wie auch immer. Nehmen wir an, das kriegen wir geregelt. Sie müssen es dennoch schaffen, die Vorrichtung beweglich zu gestalten. Das wird kaum möglich sein. Sie müssten einen Schlitten gigantischen Ausmaßes bauen, der noch dazu in einem Hochpräzisionsgestänge eingelagert ist und absolut erschütterungsfrei bewegt werden kann.«
Jana schüttelte den Kopf und wies mit dem Finger auf das Dossier. »Die Vorrichtung ist starr.«
»Ihr Ziel aber nicht. Es ist etwa so, als solle sich ein Haus mitdrehen, wenn jemand dran vorbeigeht.«
»Überhaupt nicht. Was wir brauchen, ist ein Umleitungssystem.«
»Sie meinen…«
»Die klassische Lösung.« Jana lehnte sich vor und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Es wird funktionieren, Gruschkow! Nichts anderes haben die Amerikaner und die Russen auch gemacht. Ich habe noch keine Vorstellung davon, wie wir es steuerungstechnisch lösen, aber es müsste so sein, dass eine der Komponenten beweglich ist.«
Jana erläuterte Gruschkow den technischen Aufbau, wie sie ihn sich vorstellte. Tatsächlich war sie keineswegs so sicher, ob es funktionieren würde, wie sie tat. Sie wusste zu gut, dass die Idee einem roh geschliffenen Halbwissen, einer exzellenten Flasche Rotwein und der fortgeschrittenen Tageszeit von drei Uhr morgens entsprang. Aber wenn sie selbst zu sehr zweifelte, bekäme sie Gruschkow nicht dazu, sich weiter damit auseinander zu setzen. Zwar unterstand er ihrem Kommando, dennoch konnte sie nichts von ihm erzwingen, was er selbst für unmöglich hielt.
Ricardos Meinung war eher von akademischem Interesse. Er war Kaufmann, kein Wissenschaftler. Von ihm hatte Jana nichts anderes hören wollen, als was er gesagt hatte. Die meisten Leute gingen zuallererst nach ihrem Gefühl, wenn es um die Frage des Möglichen oder Unmöglichen ging. Die Mehrheit der Menschen war beispielsweise der Meinung, interstellare Fernstreckenreisen müssten über kurz oder lang möglich sein, obgleich es allen physikalischen Gegebenheiten zuwiderlief. Die wenigsten hielten es wiederum für möglich, dass Kraken Konversationen untereinander führten in einer Sprache auf Basis von Körpermustern, aber genau dafür hatte die Wissenschaft deutliche Anzeichen. Der Prozess des Aussonderns, den das menschliche Gehirn tagtäglich vollzog, geschah schnell und intuitiv. Was einem mangels tieferen Verständnisses nicht sofort einleuchtete, galt erst einmal als unwahrscheinlich. Hätte man den Deutschen erzählt, Gerhard Schröder sei ein getarnter Außerirdischer, hätte sich kaum jemand daran begeben, es nachzuprüfen. Entsprechend hatte Ricardo, ein intelligenter Mann von hervorragender Allgemeinbildung, reagiert, als Jana ihre Gedanken vortrug. Er schloss – obschon er es technisch nicht begründen konnte – die Möglichkeit von vornherein aus. Insofern war seine Meinung wertvoll, weil sie vermuten ließ, dass kaum jemand überhaupt auf die Idee gekommen wäre.
Im Unerwarteten liegt die Chance.
»Ich bin Programmierer«, sagte Gruschkow schließlich, nachdem er unbewegt zugehört hatte. »Vergessen Sie das nicht. Ich verstehe nur zufällig etwas von diesen Dingen.«
»Sie verstehen nicht zufällig etwas davon, sondern weil Sie ein wissenschaftlicher Allrounder sind«, sagte Jana. »Und das ist kein Lob, sondern eine Tatsache. Ich hätte Sie andernfalls nicht gefragt. Also, was ist? Halten Sie es für möglich?«
Gruschkow blähte die Backen. Er nahm seine Brille ab, zog ein Tuch hervor und polierte sie ausgiebig. Dann hielt er sie mit zusammengekniffenen Augen gegen die Deckenbeleuchtung und setzte sie wieder auf.
»Ja«, sagte er.
»Das wusste ich!«, rief Jana triumphierend. »Ich wusste, dass es klappt.«
»Langsam.« Gruschkow zeigte ihr die Handflächen. »Ich sagte, es ist möglich. Das ist nicht dasselbe wie klappen. Geben Sie mir Zeit und vor allem einen Sack dezidierter Informationen. Ich brauche genaue Angaben über das Gelände, Ausdehnung und Beschaffenheit des Terrains, vor allem hinsichtlich der höchsten Punkte. Was Details betrifft, nehme ich Kontakt mit Moskau und Leningrad auf, für die grundsätzlichen Fragen steht mir ebenfalls jemand zur Verfügung. Sobald – das heißt, falls! – es an die Konstruktion geht, fehlen mir allerdings die richtigen Verbindungen.«