»Und wenn ich den Auslöser drücke…«
»Passiert’s.«
»Gruschkow, das ist phantastisch.«
»Ich weiß.« Gruschkow lehnte sich zurück und ließ den Atem entweichen. Erst jetzt fiel Jana auf, wie angespannt er die ganze Zeit hindurch gewesen war. »Es klingt immer noch undenkbar, wie aus einem spinnerten Film. Absolut phantastisch. Aber sosehr ich mich bemühe, ich finde keinen Grund, warum es nicht klappen sollte.« Er zögerte. »Bis auf einen.«
»Welchen?«
»Es darf nicht regnen.«
»Was? Warum denn das nicht? Was hat…?«
Plötzlich wurde ihr klar, was er meinte. Physik. Simpelste Physik. Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie:
»Das ist profan, Gruschkow. Entsetzlich profan. Dann können wir die Sache vergessen.«
»Nicht unbedingt. Jetzt muss ich Sie am Ende noch davon überzeugen, was? Erstens ist es nur dann ein Problem, wenn es aus Eimern schüttet. Erinnern Sie sich bitte, dass ein Wolkenbruch schon verheerend sein kann, wenn Sie mit einem Präzisionsgewehr ein bewegliches Ziel hundert Meter weiter weg treffen wollen. Oder Nebel. Kann alles passieren. Im entscheidenden Moment kann ein Lastwagen vorbeifahren, wenn Sie gerade abdrücken wollen. Solcherlei Unwägbarkeiten sind nichts Neues. Wir werden außerdem im Sommer operieren, da besteht die Chance, dass es trocken bleibt.«
»Nicht in Deutschland. Aber egal. Weiter.«
»Sie haben mehr als einen Schuss. Ich denke, zwei oder sogar drei. Das erhöht die Chance selbst bei einem Nieselregen gewaltig. Es gibt aber noch einen Grund, es so zu machen.«
»Der wäre?«
»Plan B. Der gute alte Plan B, Jana. Ich weiß, Ihre Auftraggeber hätten gern diesen einen Tag an diesem einen Ort zu dieser einen
Stunde. Sollen sie haben. Aber wenn es nun wirklich schief geht, müssen Sie eben eine Gelegenheit an einem anderen Tag finden.«
»Der ganze Aufwand ein zweites Mal?«
»Ist nicht so viel Aufwand. Überlegen Sie doch mal. Sie brauchen lediglich ein zweites Umleitungssystem. Wichtig ist, dass Sie im Voraus wissen, wo Sie es installieren müssen.«
Jana dachte darüber nach.
»Ich meine«, fügte Gruschkow hinzu, »grundsätzlich werden Ihre Auftraggeber doch daran interessiert sein, dass die Sache überhaupt funktioniert. Also machen Sie Ihren Salto mit Netz und doppeltem Boden.«
»Diese Waffe ist phantastisch«, flüsterte Jana. »Der Effekt wäre ungeheuerlich. Wir müssen es so machen!«
»Wir werden es so machen«, sagte Gruschkow. »Und der Effekt wird immer noch gewaltig sein, wenn er woanders eintritt und an einem anderen Tag. Das Resultat bleibt dasselbe. Die Bilder, die um die Welt gehen werden, auch.« Er stand auf und griff nach einem Pullover, der über der Lehne seines Stuhls hing. »Und das wollen Sie doch, oder?«
Sie überlegte kurz.
»Ja«, sagte sie. »Das klingt gut, Gruschkow. Wirklich gut.«
»Fein. Dann gehe ich jetzt was essen. Morgen besprechen wir die Einzelheiten.« Er grinste zum dritten Mal, und langsam wurde er Jana unheimlich. »Ich schätze, es gibt eine Menge zu tun. Nicht wahr?«
1998. 22. DEZEMBER. KLOSTER
Gut einen Monat nachdem Mirko den alten Mann das erste Mal in den Bergen getroffen hatte, konnte er ihm eine Lösung präsentieren. Er war sich nicht sicher, wie der Alte darauf reagieren würde. Jana hatte ihm klar gemacht, dass sie die Beschaffung des Equipments von Mirko erwartete beziehungsweise von seinen Hintermännern. Aber das war nicht das eigentliche Problem.
Die Frage war, ob der Alte über das nötige Vorstellungsvermögen verfügte.
Mirko fragte sich, wie seine Auftraggeber bloß auf den Decknamen Trojanisches Pferd verfallen waren. Als Allegorie war er verfehlt. Es kam ihm vor, als hätten sich die Streiter im Bauch des imaginären Pferdes allesamt vor dem Geschichtsunterricht gedrückt. Er fragte sich, wie eine Welt funktionieren sollte, in der die Führer weniger wussten als Menschen wie Mirko, die ihnen dienten und zuarbeiteten. Nicht, dass es ihn weiter kümmerte. Aber bemerkenswert war es dennoch, dass Karel Zeman Drakovic, der es aus einfachen Verhältnissen zum Drahtzieher der Mächtigen gebracht hatte, einen Mangel an Treffsicherheit registrierte, der einer Elite einflussreicher und studierter Leute offenbar entgangen war.
Andererseits, wer regierte denn die Welt? Ludwig XIII. mochte König von Frankreich gewesen sein, die Geschicke hatte Richelieu bestimmt. Nixon war über seine eigenen Leute gestürzt. Johannes Paul I. war Papst gewesen, bis er zu viel kontroverses Gedankengut einbrachte, dann war er plötzlich tot. Die Kaiser, Könige und Präsidenten, Päpste und Diktatoren mochten sich in Positur stellen, irgendjemand war immer mit auf dem historischen Schnappschuss, von nichts sagendem Äußeren, lächelnd und halb verdeckt vom winkenden Arm des Führers, aber wann dessen Kopf in den Korb rollte, bestimmte letzten Endes er.
Die Mächtigen mochten stürzen – die zweite Garde, derer sie sich bedienten, tauchte irgendwann wieder auf. Immer in Positionen, die einen maximalen Handlungsspielraum bei minimaler Gefährdung der eigenen Stellung ermöglichten. Sie waren die Schatten, die sich aussuchen konnten, wer sie warf, ob sie nun CIA oder KGB hießen. Die Schattenkrieger hatten alle Macht. Riskant wurde es für sie nur, wenn sie selbst dem Glamour des Rampenlichts verfielen.
Mirko dachte an Slobodan Milosevic, während das Kloster in der Ferne auftauchte. Auch der Diktator hatte sein sicheres Terrain verlassen, als er beschloss, aus dem Schatten des dienstbaren Opportunismus zu treten und seiner Eitelkeit nachzugeben. Er war wie alle seiner Art verblendet und damit angreifbar geworden. Solange er es vorgezogen hatte, im richtigen Moment die Ideologie zu wechseln und anderen das Regieren zu überlassen, hatte er überdauert, Entscheidungen gefällt und im Verborgenen die Weichen gestellt. Es war ihm jederzeit möglich gewesen, in ein anderes Lager überzulaufen, wo ein neuer starker Feldherr seiner Dienste bedurfte. Jetzt aber – nachdem er 1986 die Parteiführung in Serbien und ein Jahr später die Präsidentschaft übernommen hatte – stand er selbst an der Spitze. Nichts und niemand kam mehr nach ihm, er hatte sich keinen Unterschlupf gelassen. Er war sein eigenes und das Produkt anderer geworden, eine Fieberphantasie der nationalen Intelligenz Serbiens, ein Homunkulus mit der einzigen Aufgabe, ein für alle Mal die Wahrheit zu verkünden, die serbische Wahrheit, die wahrer ist als jede andere Wahrheit, fußend auf der Monstrosität historischer Ansprüche, aus denen er Recht und Rechtmäßigkeit ableitete, das Gesetz schlechthin.
Als Folge vermochte der Diktator die Gesetze nicht mehr auszulegen, die er gemacht hatte. Er war das Gesetz! Milosevic würde sein Schicksal ereilen, weil er an seiner eigenen Verbindlichkeit zugrunde ging. Im grellen Licht der weltpolitischen Bühne drohte ihm der Schurkentod, weil die Guten Kenntnis von ihm genommen hatten. Das war sein größtes Problem, und er hatte es zu keiner Zeit erkannt oder danach gehandelt. Jahre würde es dauern, in denen er ungeheuren Schaden anrichten und seine Feinde dutzendfach vernichtend schlagen konnte, aber nichts würde ihn schützen gegen den Jago oder Brutus mit dem nichts sagenden Gesicht, lächelnd, halb verdeckt vom winkenden Arm des großen Nationalisten, Verrat planend.
Viele waren wie der serbische Diktator, wie Kennedy und Nixon, wie Jelzin, Saddam Hussein, wie die Cäsaren. Gleich welcher Ideologie, entging ihnen ihre Mutation zur Handpuppe, in die andere schlüpften. Sie leisteten sich grandiose Schlachten, die keiner wirklich gewinnen konnte, also führten sie einen zweiten, verdeckten Krieg, in dem ein Mirko oder ein Carlos, ein Abu Nidal oder eine Jana aktiv wurden, ließen andere Hände ihr Schicksal in die Hand nehmen. Zu jeder Zeit waren sie ihrer selbst so sicher, dass sie keinen Zweifel an der Ausübung totaler Kontrolle hegten. Auf dem Scheitelpunkt ihrer Macht schob ihnen dann jemand den Dolch zwischen die Rippen, und die Inszenierung endete. Im Puppenspiel fiel der Vorhang. Die Figuren waren hinreichend demoliert, die Spieler zogen sich zurück und warteten auf ihren nächsten Einsatz. Die Welt der Puppen wandelte sich. Die der Spieler blieb gleich.