Kuhn spitzte die Lippen, pfiff die ersten Takte des River-Qwai- Marsches und betrat den zuvorderst liegenden Raum.
Er stand in einer kleinen Küche. Aus der Diele fiel genügend Licht herein, um eine billige Küchenzeile sowie einen Tisch mit zwei Stühlen zu erhellen. Über der Spüle hing ein Poster, auf dem eine grüne Steilküstenlandschaft abgebildet war. »Spirit of Ulster« rankte sich in keltischen Buchstaben darüber. Es roch schwach nach alter Wurst und Schimmel.
Er ging zurück in den Flur. Gleich neben der Küche fand er ein winziges Bad vor. Das Waschbecken war der Toilettenschüssel so dicht benachbart, dass man sich im Sitzen die Hände darin hätte waschen können. Wenige Fußbreit weiter verdeckte ein halb zugezogener Vorhang aus blauem Kunststoff eine zu kleine Duschtasse.
Irgendwie beruhigend.
Kuhn pfiff die nächsten paar Takte und inspizierte das Zimmer am Ende des Flurs. Nachdem sich bislang niemand auf ihn gestürzt oder ihn sonstwie bedroht hatte, fühlte er seine Selbstsicherheit zurückkehren. Zu ihr gesellte sich eine Anwandlung konquistadorischer Arroganz. Unvermittelt begann ihm die Sache Spaß zu machen. Sie mochte nicht unbedingt seiner Vorstellung von einem unterhaltsamen Abend entsprechen, aber es war keineswegs zu leugnen, dass dieser Augenblick eine gewisse Würze in sein akademisiertes Dasein brachte.
Er grinste. Mit erwachender Freude am verbotenen Tun richtete sich seine Aufmerksamkeit nicht mehr einzig auf die Frage nach Wagners und O’Connors Verbleib, sondern trieb ihn zu lustvollen Indiskretionen. Was gab es nicht alles zu entdecken im Leben anderer Menschen! Leute waren wie Bücher. Sie selbst zu lektorieren – nicht ihre schriftstellerischen Werke, sondern die Personen als solche einschließlich ihrer sämtlichen Usancen, sie zu erziehen, Gewohnheiten wegzustreichen, falsche Entscheidungen durch richtige zu ersetzen, ganze Lebensabschnitte zu kürzen oder umzuschreiben – ein erhebender Gedanke! Ein Mann wie Kuhn würde das Objekt seiner
Begierde ganz unappetitlich anbaggern können, unoriginell, chauvinistisch, platt, um den berechtigten Abscheu dann per Federstrich zu tilgen und durch ein dahingehauchtes Ja zu ersetzen. Wie unanstrengend könnte das Leben sein! Man müsste nicht mehr aussehen wie O’Connor mit seinem Betoncharme und seinen Designeranzügen. Man könnte Kika Wagner ungestraft wegen ihrer Größe hänseln und dürfte zur Belohnung mit ihr ins Bett. Jede Szene ließe sich im Augenblick ihres Vollziehern umschreiben. Aus Paddys Kleiderschrank etwa wäre in dieser Sekunde ein dumpfes Wimmern zu vernehmen. Im Innern würde man einer gefesselten und geknebelten Kika ansichtig. Im Anschluss an die heldenhafte Befreiung käme dann die Szene mit der Dankbarkeit.
O’Connor? Scheiß auf O’Connor!
Beflügelt öffnete Kuhn einen ärmlich zusammengestoppelten Kleiderschrank, aber außer gähnender Leere und einigen wenigen Wäschestücken hatte das Innere nichts zu bieten.
Plötzlich schämte er sich für seine Gedanken. War er nicht aus ehrlicher Sorge hierher gefahren?
Kopfabenteuer sind gratis, dachte er. Wenn schon!
Er sah sich weiter um. Paddy Clohessy schien ein ziemlicher Existentialist zu sein. Er schlief auf einer am Boden liegenden Matratze. Bücher stapelten sich daneben die Wände hoch. Interessehalber nahm Kuhn die Cover der zuoberst liegenden Exemplare in Augenschein. Er musste sich im Dämmerlicht darüberbeugen, um die Titel zu erkennen. Clohessy las englische Ausgaben der Werke Prousts! Kein dummes Kerlchen, dieser Ire. Eine Biographie Yassir Arafats, wissenschaftliche Sachbücher, die sich allesamt mit Physik beschäftigten. Romane von Hemingway, Tennessee Williams und Toni Morrison. Etwas über den Freiheitskampf Nelson Mandelas. Fast fühlte Kuhn so etwas wie Sympathie für den schlimmen Paddy erwachen.
Er verließ den Schlafraum und nahm sich das Wohnzimmer vor. Auch hier Verzicht, wohin man blickte. Clohessy schien bis auf das Ulster-Poster in der Küche kein einziges Bild zu besitzen. Eine schwarze Ledercouch war so in den Raum gestellt, dass man von dort den Fernseher im Auge hatte, der als einziges Möbelstück mit Liebe platziert und wahrscheinlich sehr teuer gewesen war. Sitzgelegenheiten für Besucher gab es keine. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, flankiert von Rollcontainern. Die Arbeitsfläche war bedeckt mit Zeitschriften und Schnellheftern, losen Blättern, Stiften und einem Schreibblock. Mehrere Kaffeetassen standen dazwischen herum. Kuhn wusste, ohne sie näherer Betrachtung zu unterziehen, dass ihre Vielzahl kein Zeugnis von Geselligkeit ablegte, sondern Resultat derselben Schlamperei war, die auch sein Zuhause beherrschte. Angetrockneter Kaffee stank nicht. Manchmal standen die Tassen eine Woche oder zwei herum. Solange sich niemand darüber beschwerte, war es beinahe wohnlich.
Sinnend starrte er auf den Fernseher.
Er sollte gehen. Er hatte herausgefunden, weswegen er hergekommen war. Weder Wagner noch O’Connor hielten sich hier auf und auch nicht in der Begleitung Clohessys.
Natürlich konnte man noch einen Blick auf diesen Schreibtisch werfen.
Du bist unanständig, Kuhn, schalt er sich. Nicht das Geringste hast du hier verloren! Mach endlich, dass du rauskommst.
Aber gegen die Angst erhob sich der degeneriert geglaubte Philip Marlowe in Kuhn plötzlich zu ungeahnter Größe. Dass die beiden Nervensägen nicht hier waren, musste keineswegs ein Beweis für Paddys Unschuld sein. Was immer sich in diesem Zimmer fand, konnte durchaus von Interesse sein.
Und er, Franz Maria Kuhn, wäre der Mann, der den Schleier lüftete.
Er zögerte. Abenteuerlust wechselte mit Fluchttrieb.
Dass er zu lange gezögert hatte, wurde ihm klar, als er das leise Schaben und Kratzen hörte.
Jemand machte sich an der Wohnungstür zu schaffen!
Kuhn fühlte, wie das Blut aus seinem Kopf wich und ihn lähmende Schwäche überkam. Unfähig, sich zu bewegen, lauschte er in die Stille hinein.
Es war mehr eine Ahnung als ein klar vernehmliches Geräusch, nur Schwingungen von Bedrohung. Aber es reichte, jedes weitere Interesse an Abenteuern in ihm ersterben zu lassen. Mit zu Grabe getragen wurden die letzten Reste von Courage.
Die Klinke wurde heruntergedrückt.
Plötzlich schien er Flügel zu besitzen. Der Schwung des Entsetzens trug ihn in die Diele und ins gegenüberliegende Bad, schneller, als der unbekannte Eindringling den Griff ganz nach unten bewegen konnte. Die Badezimmertür schwang zu, fiel mit leisem Klicken ins Schloss, gerade, als die Tür zum Hausflur mit unvermeidlichem Quietschen aufging. Die Geräusche überschnitten sich, wurden eins. Kuhn starrte wie irrsinnig in die Dunkelheit, sprang in die Duschtasse, schloss den Vorhang und rutschte an den Kacheln entlang nach unten, bis sein Hinterteil den Boden berührte.
In den ersten Sekunden hörte er nur das Blut in den Ohren rauschen. Es schien aus sämtlichen Öffnungen seines Kopfes spritzen zu wollen. Sein Herz hämmerte einen unbarmherzigen Takt.
Sein Herz. Oh Gott, wie laut!
Er würde es hören! Der, die, das da draußen würde sein Herz klopfen hören und ihn holen kommen.
Ruhig. Ruhig!
Nach den furiosen letzten Sekunden fühlte er sich in der plötzlichen Stille wie ein Hühnchen in Gelee. Von jenseits der Badezimmertür erklang nicht das leiseste Geräusch. Oder täuschte er sich?
Mühsam zwang er die Panik herunter und lauschte.
Doch, jemand musste in der Wohnung sein. Jemand, der sich sehr leise bewegte.
War es Clohessy? Oder der Mann mit dem slawischen Akzent? Dann saß er tatsächlich in der Patsche. Es hatte kein Licht gebrannt, als sie aus der Wohnung gegangen waren, und außerdem hatten sie die Tür aufgelassen. Wer immer da herumschlich, musste wissen, dass außer ihm noch jemand hier war.
Kuhns Hand tastete nach dem Nokia in der Innentasche seines Jackets. Er zog es hervor und aktivierte den Speicher. Das Display leuchtete auf. Eine Reihe von Nummern erschien. Er drückte den Daumen auf die Continue-Taste, bis Kika Wagners Name auf dem kleinen Bildschirm erschien, und ließ die Automatik wählen.