Das Display zeigte ihr klar und unmissverständlich an, wann die Nachricht abgeschickt worden war:
GESENDET:
17. JUNI 1999
00:56:12
Zweieinhalb Stunden bevor sie mit dem Lektor telefoniert hatte.
»Liam«, flüsterte sie.
Ungeachtet der Schmerzen in ihrem Kopf packte sie O’Connor bei den Schultern und schüttelte ihn nach Leibeskräften.
»Liam. Liam! Wach auf.«
Er öffnete die Augen und sah sie an.
»Slainte«, sagte er. »Ist noch was in der Flasche?«
GRUSCHKOW
Im Maritim herrschte Geschäftigkeit. Es ging gegen neun. Busse fuhren vor. Weitere Scharen von Diplomaten und Korrespondenten waren angereist, Koffer wurden auf Garderobenwagen durch die Halle geschoben, an der Rezeption entstand Gedränge.
Maxim Gruschkow beobachtete das Geschehen mit einer gewissen Schläfrigkeit. Seine Brillengläser spiegelten das Licht des Tages wider, das durch die gläserne Eingangsfront ins Innere fiel. Er trug einen dunklen Anzug und einen weinroten Seidenschal. Mit der polierten Glatze und dem Taschenbuch in seiner Hand, den dritten Cappuccino vor sich, hätte er ein Künstler oder Literat sein können. Seit drei Stunden saß er in der Halle und las Platon, den Blick stets zur Hälfte über den Buchrand gerichtet.
Er wusste, dass O’Connor und die Frau am frühen Morgen hier eingetroffen waren. Sie hatten sich ohne Umschweife nach oben begeben und waren seitdem nicht wieder aufgetaucht.
Mit einem Mal sah er sie den Fahrstuhl verlassen und Richtung Ausgang streben.
Sehr lange Beine, dachte Gruschkow. Schöne Beine.
Er schlürfte den letzten Rest seines Cappuccinos, erhob sich und folgte den beiden. Sie gingen auf ein Taxi zu. Gruschkow ging vor dem Wagen her bis ans Ende der Ausfahrt und stieg in den dort geparkten Audi. Im Moment, als er den Zündschlüssel drehte, rollte das Taxi an ihm vorbei.
Ohne Eile fädelte er sich in den Verkehr ein und folgte dem Wagen, wobei er gehörig Abstand und einige Autos zwischen sich und dem Taxi ließ. Insgeheim amüsierte er sich über seine ungewohnte Rolle. Maxim Gruschkow, der in Russland wegen Mordes an seiner Ehefrau mit Haftbefehl gesucht wurde und in den Jahren danach mitgeholfen hatte, mehr als ein Dutzend Menschen umzubringen, fühlte sich wie in einem Krimi.
Folgen Sie diesem Wagen!
Es war eine Abwechslung. Immer nur Denken und Programmieren war auf die Dauer einfach zu anspruchsvoll.
Dann rief er sich in Erinnerung, in welcher Situation sie sich befanden, und fühlte seine Amüsiertheit schwinden.
Das Taxi fuhr auf die andere Rheinseite und bog auf die Flughafenautobahn ab.
Gruschkow beschleunigte. Wie es aussah, würden sich Janas Befürchtungen bestätigen. Eine Weile glitten sie durch dichten Verkehr, dann nahm das Taxi die Ausfahrt zum Flughafen, und sie fuhren den Zubringer entlang.
Schilder tauchten über dem Zubringer auf, Ankunft, Abflug, Hinweisschilder auf Parkhäuser.
Keine der ausgewiesenen Richtungen steuerte das Taxi an. Stattdessen verschwand es weit vor dem Terminalkomplex in einer Seitenstraße. Gruschkow bremste den Audi ab und ließ ihn langsam die Straße entlangrollen. Sie beschrieb eine Linkskurve, führte an der Verwaltung vorbei und auf einen Flachbau zu.
Er kannte das Gebäude, vor dem Wagner und O’Connor dem Taxi soeben entstiegen. Sie alle kannten den Flughafen wie ihre Westentasche. Ohne einen weiteren Blick zu verschwenden, fuhr er an dem Flachbau vorbei, hielt sich weiterhin links, unterquerte den Zubringer und fuhr zurück auf die Autobahn.
Der Flachbau war die Polizeiwache.
Er rief Jana an.
PHASE 3
KOELN-BONN AIRPORT
Eric Lavallier lehnte sich zurück und sah die Frau und den Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs unter halb geschlossenen Lidern an.
Mit jedem Wort entströmte ihren Mündern der Dunst nächtlicher Exzesse. Kirsten Wagner – oder hieß sie Katharina? – erweckte auf ihrem Stuhl den Eindruck eines aus dem Nest gefallenen Vogels. Offenbar litt sie unter Kopfweh. Ihre Augen waren verquollen, ihr Gesichtsausdruck zerquält. Sie schien jeden Satz dreimal im Mund herumzudrehen und dann unter größten Schwierigkeiten auszuspucken. Demgegenüber artikulierte sich der Mann, der ihm als Dr. Liam O’Connor vorgestellt worden war, überraschend klar und deutlich. Er hatte es abgelehnt, Platz zu nehmen, sondern ging beständig im Raum auf und ab. Sein Erscheinungsbild war gepflegt und kultiviert. Lavallier, der selbst kein großes Interesse an modischen Dingen hatte, registrierte sehr wohl den perfekten Sitz des silbergrauen Anzugs, der wahrscheinlich furchtbar teuer gewesen war. Ebenfalls wusste er, dass dieser O’Connor Romane schrieb und sich grenzübergreifender Popularität erfreute. Er fiel demnach unter die Kategorie Künstler und genoss das Privileg, nach Alkohol riechen und sich danebenbenehmen zu dürfen, ohne sofort der sozialen Ächtung anheim zu fallen.
Ob man ihm glauben konnte, war eine andere Geschichte.
Mechanisch, während er lauschte, fügte Lavallier seine Besucher in Kategorien. Der Mann trank regelmäßig, konstatierte er, die Frau war es nicht gewohnt. Man musste kein Fachmann sein, um das zu erkennen. Es reichte, lange genug den Job zu machen.
Er gestattete sich einen Anflug von Verärgerung.
Kaum etwas hatte er mehr befürchtet, als dass heute jemand in sein Büro spazieren und ihm eine solche Geschichte auftischen würde. Nicht, dass er sie jemand anderem erzählt wissen wollte. Ihm war klar, dass niemand damit zu Winrich Granitzka lief, der als leitender Polizeidirektor Kölns in diesen Tagen über zwölftausend Beamte gebot und die Hauptverantwortung für den reibungslosen Ablauf des Doppelgipfels trug. Lavallier hielt die operative Leitung des Geschehens auf dem Airport in Händen. Es war schon gut und richtig, dass sie zu ihm kamen.
Es war nur nicht gut, dass sie überhaupt kamen.
Genauer gesagt war es eine Anmaßung des Schicksals. Der Schutzpatron der Polizei hatte ihn nicht mehr lieb. Er fragte sich, ob ihn eine göttliche Dienststelle strafen wollte für den kurzen Anflug von Selbstsicherheit, der ihn beim Frühstück überkommen hatte. Na und? War es denn so unanständig, sich zu freuen, dass die Landungen der EU-Delegierten Anfang Juni ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen waren? So viele! In so kurzer Zeit. Sie waren in ihren zweistrahligen Jets hereingesegelt wie die Brieftauben, Viktor Klima, Antonio Guterres, Tony Blair, elf Maschinen am Stück. Elf adrenalingesättigte Momente. Elfmal hoffen, dass nicht irgendein Verrückter doch noch etwas tat, womit niemand gerechnet hatte, obwohl das BKA schlichtweg mit allem rechnete, sogar mit dem Einsatz von Giftgasen und Marschflugkörpern. Zwar waren die Teilnehmer des EU-Gipfels nur unter Sicherheitsstufe zwei gefallen – Anschlag nicht auszuschließen – und einige nicht mal das. Aber die
Klassifizierung erwies sich als Makulatur. Welche Sicherheitsstufe hatte für Olof Palme gegolten? Für Anwar el Sadat? Was hätte vermuten lassen, dass jemand mit dem Messer auf Oskar Lafontaine losgehen oder Wolfgang Schäuble in den Rücken schießen würde?
Wer immer in den letzten Tagen seinem Flieger entstiegen und über den flaggengesäumten roten Teppich gegangen war – oder daran vorbei wie der griechische Premier Simitis –, musste den Eindruck eines freundlichen, nahezu gelassenen Willkommens gewonnen haben, ohne sich ernsthafte Gedanken um sein Leben machen zu müssen. Geschenkt, dass Lavalliers Leute im Vorfeld Stunden und Tage mit den ausländischen Delegationen zusammengehockt und Sonderwünsche berücksichtigt hatten, um schließlich einen mit Scharfschützen gespickten Flughafen in die diplomatische Feuertaufe für den Supergipfel zu entlassen. Fast schon routiniert hatten sie wenige Tage später die Außenminister begrüßt, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Im Dutzend verlor die Starparade schnell an Glanz. Angesichts des stinknormalen Habitus, den manch politische Prominenz – auf Fleisch und Blut reduziert – an den Tag legte, fühlte man sich im entscheidenden Moment ohnehin eher an den Besuch der alten Tante erinnert. Madeleine Albright, wie üblich unbeeindruckt von jeglichem Pomp, hatte ausgesehen, wie sie immer aussah. Beschäftigt. Sie war in gewohnter Unbeholfenheit die wenigen Stufen heruntergegangen, und Lavallier hatte sich gefragt, ob jemand ihres Kalibers jemals Furcht empfand bei der Landung auf einem fremden Airport, beim Ausrollen der Maschine, beim Abschreiten der Ehrenformation. Der Landeanflug und der kurze Weg vom Flieger zur Limousine waren die kritischsten Momente. Der Alptraum eines jeden Scharfschützen. Der potentielle Tod eines jeden Prominenten.