Javert setzte seinen Hut auf, kreuzte die Arme und sagte ruhig:
»Halt! Ihr geht nicht durch das Fenster, sondern durch die Tür. Das ist viel bequemer. Ihr seid sieben, wir sind fünfzehn. Also wollen wir uns nicht herumprügeln wie dumme Bauern. Sind wir vernünftig?«
Bigrenaille holte unter seiner blauen Bluse eine Pistole hervor und schob sie Thénardier zu.
»Das ist Javert. Auf den kann ich nicht schießen. Getraust du dich’s?«
»Den Teufel auch!«
»Gut, schieß!«
Thénardier zielte auf Javert.
Der sah ihn ruhig an und sagte:
»Bemüh dich nicht, dein Schuß geht nicht los.«
Thénardier drückte ab – der Schuß versagte.
»Hab’ ich dir’s nicht gesagt?« fragte Javert.
Bigrenaille warf seinen Prügel Javert zu Füßen.
»Du bist ja der Erzteufel! Ich ergebe mich.«
»Und ihr?« fragte Javert die andern.
»Wir auch.«
»Gut, ich sagte ja, ihr sollt vernünftig sein.«
»Ich bitte nur um einen Vorzug«, sagte Bigrenaille, »Raucherlaubnis im Gefängnis.«
»Bewilligt«, entschied Javert. Dann wandte er sich um:
»Vorwärts, ihr!«
Ein Schwarm Polizisten drang in die Stube ein.
»Handschellen für alle!« rief Javert.
»Kommt doch her!« schrie eine Stimme, die nicht einem Mann gehörte, aber von der niemand hätte behaupten können, daß es eine Frauenstimme war.
Die Thénardier hatte sich in den Fensterwinkel zurückgezogen. Die Polizisten fuhren zurück. Sie hatte ihren Schal abgeworfen; den Hut hatte sie noch auf dem Kopf. Sie hielt den Pflasterstein mit beiden Händen erhoben und sah aus wie eine Riesin, die einen Felsblock schleudern will.
»Zurück!« brüllte sie.
Dann warf sie den Banditen, die sich hatten fesseln lassen, einen verächtlichen Blick zu und murmelte heiser:
»Feiglinge!«
Javert lächelte und trat vor.
»Komm mir nicht näher«, schrie sie, »oder ich schlage dir den Schädel ein!«
»Welch ein Grenadier!« lachte Javert. »Mamachen, du hast einen Bart wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein Weib.«
Und er trat näher. Die Thénardier spreizte die Beine, bog den Körper zurück und schleuderte den Pflasterstein mit voller Kraft nach Javert. Der Inspektor bückte sich. Der Stein schlug über ihn hinweg gegen die Wand und prallte zurück. Schon hatte Javert die beiden gefaßt. Seine Rechte lag auf der Schulter der Frau, die Linke auf dem Kopf des Mannes.
»Handfesseln!«
Einige Sekunden später war sein Befehl vollstreckt. Die Thénardier starrte wie vernichtet auf ihre und ihres Mannes gefesselte Hände, warf sich zu Boden und jammerte:
»Meine Töchter!«
»Für die habe ich schon gesorgt«, beruhigte sie Javert.
Inzwischen hatten die Polizisten den Besoffenen wach bekommen. Er erhob sich schwerfällig.
»Ist alles vorbei, Jondrette?«
»Ja«, antwortete Javert.
Dann wandte er sich zu den Banditen; drei hatten geschwärzte Gesichter, drei waren maskiert.
»Behaltet eure Masken auf«, befahl er.
Dann schritt er die Reihe ab, wie Friedrich II. auf einer Potsdamer Parade seine Grenadiere.
»Tag, Bigrenaille«, sagte er. »Tag, Brujon. Tag, Deux-Milliards, Tag auch, Gueulemer, Babet und Claquesous!«
Jetzt bemerkte er den Gefangenen der Banditen, der seit dem Erscheinen der Polizisten kein Wort gesprochen und gebückten Hauptes dagestanden hatte.
»Bindet den Herrn los«, befahl Javert, »niemand darf hinaus.«
Dann setzte er sich an den Tisch, auf dem Kerze und Schreibzeug noch bereitstanden, zog ein Stempelpapier aus der Tasche und begann sein Protokoll niederzuschreiben.
Nachdem er einige Zeilen zu Papier gebracht hatte, offenbar die einleitenden Formen, blickte er auf.
»Der Herr, der gebunden war, mag näher treten.«
Die Agenten blickten um sich.
»Na, vorwärts, wo ist er denn?«
Herr Leblanc oder Urbain Fabre war verschwunden.
Man hatte die Türe bewacht, aber nicht das Fenster. Sobald der Gefangene sich von seinen Fesseln befreit gesehen hatte, war er, während Javert schrieb, verschwunden.
Ein Agent lief zum Fenster und sah hinaus. Nichts war zu sehen. Die Strickleiter schwankte noch.
»Verflucht!« schimpfte Javert, »und der war sicher der Interessanteste!«
Ein Kleiner, der seinen Vater sucht
Am nächsten Morgen spazierte ein kleiner Junge, der von der Austerlitzer Brücke zu kommen schien, den Boulevard de l’Hôpital hinunter. Er war blaß und mager, und seine Beine steckten trotz der Februarkälte in einer dünnen Leinenhose.
An der Ecke der Rue du Petit-Banquier wühlte eine gebückte Alte in einem Abfallhaufen. Im Vorübergehen rief ihr der Junge zu:
»Holla, ich dachte, du wärst ein großer, großer Hund!«
Er sprach das »großer« aus, daß man meinte, die Majuskeln zu hören.
Wütend drehte sich die Alte um.
»Verfluchter Lausbub!« schimpfte sie, »wenn du in Reichweite wärst –«
»Kß! kß! vielleicht hab ich mich nicht getäuscht!«
Wütend wandte sich die Alte wieder ab. Der Junge sah sie von der Ferne an.
»Madame ist nicht mein Typ«, meinte er.
Er spazierte weiter bis Nr. 50 bis 52, und als er die Tür verschlossen fand, wartete er. Und da auch das Warten vergeblich war, begann er, die Türe mit seinen Füßen zu stoßen.
Die Alte von der Ecke der Rue du Petit-Banquier kam schnaufend näher. »Was gibt’s denn nur? Großer Gott, sie stoßen die Türe ein!« Plötzlich blieb sie stehen. Sie hatte den Straßenjungen erkannt. »Ach, du bist es, kleiner Satan?«
»Uff!« murmelte der Junge, »guten Tag, Burgonchen. Ich will meine Alten besuchen.«
Die Greisin antwortete mit einer Miene, die leider im Halbdunkel verlorenging.
»Keiner hier, Fratz!«
»So? Wo ist denn mein Vater?«
»Im Kittchen.«
»Und Mama?«
»Im Loch.«
»Und meine Schwestern?«
»Hinter Schloß und Riegel.«
Der Junge kratzte sich hinter dem Ohr, betrachtete Frau Burgon aufmerksam und sagte endlich:
»Ach?!«
Dann drehte er sich auf den Fersen um.
Vierter Teil
Eine Idylle in der Rue Plumet und ein Epopöe in der Rue Saint-Denis
Erstes Buch
Eponine
Das Lerchenfeld
Marius hatte Javert auf die Spur der Verbrecher gebracht; und kaum war Javert wieder fort, um seine Gefangenen in drei Droschken nach dem Gefängnis zu bringen, da war auch Marius fortgelaufen. Es war erst neun Uhr abends. Er ging zu Courfeyrac.
Der Student war jetzt nicht mehr einer der unbeirrbaren Bewohner des Quartier Latin. Er war nach der Rue de la Verrerie verzogen, »aus politischen Gründen«, wie er sagte. In jener Gegend ließen sich damals die Revolutionäre gern nieder.
Als Marius Courfeyrac gesagt hatte, daß er bei ihm schlafen wolle, zog dieser eine Matratze aus seinem Bett (in dem es deren zwei gab), legte sie auf den Boden und sagte:
»Bitte.«
Am nächsten Morgen, es war erst sieben Uhr früh, begab sich Marius in sein früheres Quartier, bezahlte die restliche Miete und alles, was er Frau Burgon schuldete, ließ seine Bücher auf einen Handwagen verladen, sein Bett, seinen Tisch, seine Kommode und seine zwei Stühle, und dann entfernte er sich, ohne seine neue Adresse zu hinterlassen; als Javert am selben Morgen in das Gorbeausche Haus kam, um Marius noch einmal über die Vorgänge von gestern abend zu befragen, bestellte ihm »Mame Bougon«:
»Ausgezogen.«