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Marius hatte zwei Gründe, so rasch umzuziehen. Einmal fühlte er einen lebhaften Widerwillen gegen dieses Haus, in dem er die Bekanntschaft einer der häßlichsten Ausgeburten unserer Gesellschaftsordnung gemacht hatte, des schlechten Armen, der vielleicht noch widerwärtiger ist als der schlechte Reiche. Und dann wollte er auch in dem Prozeß, der jener Verhaftung folgen mußte, nicht als Zeuge gegen Thénardier auftreten.

Javert glaubte, der junge Mann, dessen Namen er übrigens vergessen hatte, sei furchtsam geworden und habe sich aus dem Staub gemacht; er riskierte einige Versuche, ihn wiederzufinden, erreichte aber nichts.

So verging ein Monat, dann wieder einer. Marius wohnte noch immer bei Courfeyrac. Von einem Advokaten, der auf dem Strafgericht zu tun hatte, hatte er erfahren, daß Thénardier in Haft gehalten wurde. Jeden Montag ließ Marius Thénardier durch die Gefängniskasse fünf Franken übermitteln.

Und da er sonst kein Geld mehr besaß, entlieh er diese kleinen Beträge Courfeyrac. Das war das erstemal in seinem Leben, daß er sich mit Schulden belastete. Diese regelmäßigen Überweisungen von je fünf Franken waren ein doppeltes Rätsel – für Courfeyrac, der sie auslegen mußte, und für Thénardier, der sie empfing.

Übrigens war Marius wie zerschmettert. Alles hatte sich wieder zum Bösen gewendet. Sein Leben war zurückgesunken in jenes Dunkel, in dem er tastend weiterschritt. Er hatte das junge Mädchen, das er liebte, einen Augenblick lang in nächster Nähe gesehen, dann waren die beiden Unbekannten, denen all sein Interesse gehörte, wieder verschwunden. Jetzt blieben ihm nicht einmal mehr Vermutungen offen. Sogar den Namen, den er schon zu kennen glaubte, wußte er nicht. Gewiß hieß sie nicht Ursule. Er hatte sie Lerche nennen hören, aber das war doch offenbar nur ein Spitzname. Und was sollte er von dem Alten denken? Verbarg er sich wirklich vor der Polizei? Jetzt fiel ihm der Arbeiter mit den weißen Haaren wieder ein, den er damals in der Nähe des Invalidendoms gesehen hatte. Offenbar war er mit Leblanc identisch. Also verkleidete er sich? Dieser Mann hatte heldische und auch befremdende Züge. Warum hatte er nicht um Hilfe gerufen? Warum war er geflohen? War er wirklich der Vater des jungen Mädchens, wirklich der Mann, den Thénardier zu erkennen glaubte? Konnte Thénardier sich täuschen?

Im übrigen folgten die Tage einander, ohne daß irgend etwas Neues geschah. Nur schien es ihm, als ob der Weg, den er noch zu gehen hatte, immer kürzer werde. Schon sah er den Abgrund vor sich.

Wenn man die Rue Saint-Jacques hinaufsteigt und dem alten inneren Boulevard folgt, erreicht man die Rue de la Santé, stößt bis zur Glacière vor und findet kurz vor dem Ufer der Gobelins eine freie Fläche, im Umkreis der Pariser Boulevards den einzigen Platz, auf dem ein Ruisdael gerne seinen Klappstuhl aufgeschlagen hätte.

Ich weiß nicht, worauf die Anmut dieses Stückchen Landes beruht; es ist eine grüne Wiese, auf der Wäscheleinen ausgespannt sind. Eine alte Meierei aus der Zeit Ludwigs XIII. mit einem hohen Mansardendach steht dort; zwischen Pappeln liegt ein kleiner Teich. Am Horizont das Panthéon, das Taubstummeninstitut, Val-de-Grâce, und im äußersten Hintergrund die viereckigen Türme von Notre Dame.

Da dieser Ort wert ist, daß man ihn ansieht, kommt kein Mensch hin. Kaum daß alle Viertelstunden einmal ein Lastwagen vorüberrollt.

Eines Tages gelangte Marius auf einem einsamen Spaziergange dahin. Der Reiz dieser fast weltverlassenen Gegend berührte ihn, und so benützte er die Gelegenheit, als zufällig ein Passant vorüberkam, und fragte ihn:

»Wie heißt diese Gegend hier?«

»Lerchenfeld. Hier hat Ulback die Schäferin von Ivry ermordet.«

Aber nach dem Wort Lerchenfeld hatte Marius nicht weiter zugehört. Der Geist des Träumers ist gewisser Erstarrungen fähig, die oft ein einziges Wort auszulösen vermag. Alle seine Gedanken klammerten sich an eine einzige Idee: Lerche. Dieses Wort hatte in der Tiefe seiner Melancholie den Namen Ursule ersetzt.

Hier werde ich erfahren, wo sie sich aufhält, dachte er.

Diese Idee war verrückt, aber zwingend.

Und von jetzt an kam er täglich nach dem Lerchenfeld.

Beschäftigung der Sträflinge

Der Triumph, den Javert im Gorbeauschen Hause errungen hatte, schien vollständig, aber er war es nicht.

Zunächst einmal hatte die Polizei den »Gefangenen« nicht in ihre Hände bekommen, und das ärgerte Javert am meisten. Einer, der ermordet werden soll und vor der Polizei davonläuft, ist verdächtiger als der Mörder, der bleibt; gewiß wäre dieser Flüchtling ein nicht minder guter Fang gewesen als die ganze Truppe der Banditen, deren man sich bemächtigt hatte.

Des weiteren war Montparnasse entkommen. Man mußte eine künftige Gelegenheit abwarten, ihn zu greifen. Er hatte sich damals bei Eponine, die unter den Bäumen des Boulevards Schmiere stand, aufgehalten und hatte sie schließlich fortgeführt, da er lieber den Don Juan als den Schinderhannes spielen wollte. So war er entkommen. Javert hatte Eponine zwar später erwischt, aber das war ein recht mittelmäßiger Trost. Sie wurde zu Azelma in das Frauengefängnis gebracht.

Endlich war auf dem Transport einer der wichtigsten Häftlinge, Claquesous, verschwunden. Man wußte nicht recht, wie es zugegangen war. Die Agenten und Polizisten »begriffen es selbst nicht«. Er hatte sich in Luft aufgelöst, sich durch die Fenster des Wagens verflüchtigt; fest stand nur, daß er, als die Wagen vor dem Gefängnistor hielten, nicht mehr da war. Das Ganze schmeckte nach Zauber oder Polizei. War Claquesous buchstäblich verschwunden? Oder stand er in einem geheimen Einverständnis mit den Agenten? War dieser sonderbare Mensch zugleich ein Geheimnis der Ordnung und der Unordnung? Hatte diese Sphinx ihre Hände sowohl in den Intrigen der Verbrecher wie in den Machenschaften der Behörde? Javert ließ sich nie auf solche Dinge ein, ihm war jeder Kompromiß unmöglich. Aber unter den Leuten, die er befehligte, befanden sich auch einige Inspektoren, die, mochten sie auch seine Untergebenen sein, vielleicht tiefer in die Geheimnisse der Präfektur eingedrungen waren als er; und dieser Claquesous war ein solcher Schuft, daß er immerhin einen guten Spitzel abgeben konnte. Wie dem auch sei, der Mann war nicht mehr aufzufinden. Javert war darüber weniger empört als verwundert.

Was Marius betraf, so interessierte er die Polizei wenig.

So begann die Untersuchung.

Der Untersuchungsrichter hatte es für zweckmäßig befunden, einen der Leute der Bande Patron-Minette nicht in die Einzelzelle bringen zu lassen, wohl in der Hoffnung, daß er etwas ausplaudern würde. Diese Wahl fiel auf Brujon, den Wuschelkopf aus der Rue du Petit-Banquier. Man hatte ihn in den Hof Charlemagne gebracht, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Er war ein junger, sehr geschickter Kerl, der gerne eine jämmerliche und alberne Miene aufsetzte. Dieser Trick hatte auch den Untersuchungsrichter getäuscht, der ihn darum vor der Einzelzelle bewahrte.

Die berufsmäßigen Verbrecher stellen ihre Tätigkeit auch nicht ein, wenn sie sich in den Händen der Justiz befinden. Eine solche Kleinigkeit stört sie nicht. Wegen eines Dings zu sitzen, hindert keinen, ein anderes zu drehen.

Brujon schien die Haft schlecht zu ertragen. Oft stand er stundenlang im Hofe Charlemagne an der Luke der Kantine und starrte idiotisch auf die Preistafel, die mit »Knoblauch … zweiundsechzig Centimes« begann und mit »Zigarren … fünf Centimes« endete. Oder er verbrachte seine Zeit damit, zu zittern oder mit den Zähnen zu klappern, über Fieber zu klagen und sich zu erkundigen, ob nicht eines der achtundzwanzig Betten des Krankensaals frei wäre.

Plötzlich wurde bekannt – das war in der zweiten Hälfte des Monats Februar 1832 –, daß dieser verschlagene Brujon unter dem Namen von drei Kameraden Dienstmänner nach verschiedenen Stadtgemeinden entsandt hatte; er hatte sich diesen Luxus fünfzig Sous kosten lassen, und dieser Umstand machte den Oberaufseher neugierig.