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Man erkundigte sich und erfuhr, daß die fünfzig Sous folgendermaßen verausgabt waren; zehn für einen Gang nach dem Panthéon, fünfzehn für einen nach dem Val-de-Grâce, fünfundzwanzig schließlich für einen nach dem Tor von Grenelle. Nun befanden sich an diesen drei Orten die Wohnsitze von drei berüchtigten Banditen, Kruideniers, genannt Bizarro, Glorieux und Barre-Carrosse. Man kam auf den Gedanken, diese Leute könnten mit der Bande Patron-Minette in Verbindung stehen, von der man ja zwei Führer, Babet und Gueulemer, hinter Schloß und Riegel hatte. Offenbar hatte Brujon ihnen Tips für irgendwelche neue Verbrechen gegeben. Die drei wurden verhaftet, und man glaubte, irgendeinen Plan Brujons vereitelt zu haben.

Eine Woche später traf es sich, daß ein Wärter, der gerade nachts die Runde machte, Brujon in seinem Bette sitzend und schreibend fand. Brujon kam auf einen Monat in die Einzelzelle, aber das Geschriebene war nicht zu finden. Die Polizei war so klug wie zuvor.

Fest steht aber, daß am nächsten Tage ein Kassiber aus dem Hof Charlemagne in die »Löwengrube«, einen anderen Hof des gleichen Gefängnisses, flog, über ein fünf Stock hohes Gebäude hinweg.

Dieser Kassiber gelangte an seine Adresse, obwohl der Mann, an den er gerichtet war, sich augenblicklich in Einzelhaft befand. Und das war niemand anders als Babet, einer der vier Führer der Bande Patron-Minette.

Der Kassiber lautete:

»Babet, in der Rue Plumet ist etwas zu drehen. Ein Garten und ein Gitter.«

Das war der Zettel, den Brujon damals in der Nacht geschrieben hatte.

Trotz aller scharfen Beobachtung fand Babet ein Mittel, dieses Schreiben nach der Salpêtrière gelangen zu lassen, an eine gute Freundin, die gerade dort logierte. Die übergab es einer anderen Bekannten, einer gewissen Magnon, die schon lange die Aufmerksamkeit der Polizei erregt hatte, aber noch nicht verhaftet worden war. Magnon stand mit den Thénardiers in intimer Verbindung, und wir werden darüber bei passender Gelegenheit noch zu sprechen haben; sie ging zu Eponine, die jetzt zwischen dem Frauengefängnis und der Salpêtrière die Verbindung bilden konnte, denn man hatte die beiden Töchter Thénardiers in Ermangelung von gegen sie zeugenden Tatsachen auf freien Fuß gesetzt. Als Eponine das Untersuchungsgefängnis verließ, wartete Magnon schon an der Türe und überbrachte ihr Brujons Schreiben an Babet mit dem Auftrag, die Sache auszubaldowern.

Eponine ging sofort nach der Rue Plumet, erkannte den Garten und das Gitter, beobachtete das Haus einige Tage lang und brachte schließlich Magnon einen Zwieback, den die Freundin Babets in die Salpêtrière einschmuggelte. Ein Zwieback bedeutet in der symbolischen Sprache der Gauner:

»Nichts zu machen.«

Eine Woche später begegneten Babet und Brujon einander auf einem Transport im Korridor des Untersuchungsgefängnisses; der eine kam vom Untersuchungsrichter, der andere wurde gerade hingeführt.

»Na?« fragte Brujon, »Rue P.?«

»Zwieback«, erwiderte Babet.

Marius hat eine Begegnung

Eines Morgens, es war an einem Montag, und Marius hatte eben von Courfeyrac für Thénardier die wöchentlichen fünf Franken entliehen, steckte der junge Mann die Münze in seine Tasche und beschloß, bevor er zum Gefängnistor ging, ein wenig zu lustwandeln. Er hoffte, er werde dann besser arbeiten können.

So war es nun schon seit langem. Er stand früh auf, setzte sich an seinen Arbeitstisch und begann mit seiner Übersetzung. Damals arbeitete er an einer Übertragung eines berühmten Rechtsstreits zwischen zwei deutschen Gelehrten, Gans und Savigny; er nahm zuerst den Gans vor, las vier Seiten, versuchte etwas zu Papier zu bringen, hatte aber zwischen der weißen Schreibfläche und seinen Augen ein störendes Flimmern; verärgert stand er auf und sagte:

»Ich gehe aus. Vielleicht komme ich dann in Zug.«

Dann spazierte er zu dem Lerchenfeld.

Wohl ging er wieder nach Hause, versuchte sich auf die Arbeit zu stürzen, aber er kam nicht weiter. Es war schier unmöglich, die zerrissenen Fäden in seinem Gehirn wieder zu verknüpfen. Dann dachte er wohclass="underline" morgen geh ich aber nicht aus, das hindert mich nur an der Arbeit.

Und er ging alle Tage aus.

Bald wohnte er mehr auf dem Lerchenfeld als in Courfeyracs Bude.

An diesem Tag hatte er am Ufer der Gobelins Platz genommen. Eine heitere Morgensonne schimmerte durch das frische Laub der Bäume.

Plötzlich hörte er mitten in seiner Niedergeschlagenheit eine bekannte Stimme, die sagte:

»Holla, da ist er ja!«

Er blickte auf und erkannte das unglückliche Mädchen, das einmal zu ihm gekommen war, die ältere von den beiden Töchtern Thénardiers, Eponine. Jetzt wußte er sogar, wie sie hieß. Seltsam, sie sah jetzt noch dürftiger, aber schöner aus als einst. Sie hatte in zwei verschiedenen Richtungen Fortschritte gemacht. Einerseits war sie barfuß und in elende Lumpen gehüllt, oder ihre Lumpen waren wenigstens um einige Monate älter geworden: die Risse verbreitert, der Schmutz undurchdringlicher. Die Stimme war noch immer heiser, die Stirn gefurcht, der Blick unstet und frech. Aber es war irgend etwas Beklagenswertes, Verschüchtertes dazugekommen. Die Untersuchungshaft hatte ihre Züge verändert.

Sie hatte einige Strohhalme in den Haaren, nicht wie Ophelia, die von Hamlets Wahnsinn angesteckt worden war, sondern weil sie die Nacht in einer Scheune zugebracht hatte. Und doch sah sie hübsch aus. O welch ein Stern bist du, Jugend!

Jetzt blieb sie vor Marius stehen, und ihr bleiches Gesicht zeigte einen Schimmer von Freude, etwas wie ein Lächeln. Erst nach einigen Sekunden konnte sie sprechen.

»Also habe ich Sie doch gefunden! Ich war bei Vater Mabeuf, um nach Ihnen zu fragen. Er hatte recht, als er sagte, ich würde Sie hier finden. Wie ich Sie gesucht habe! Wenn Sie wüßten …! Ich war auch im Gefängnis. Vierzehn Tage! Dann haben sie mich laufen lassen. Erstens konnten sie gegen mich nichts sagen, und dann bin ich noch zu jung. Erst in zwei Monaten erreiche ich das nötige Alter. Oh, wie ich Sie gesucht habe! Sechs Wochen lang. Wohnen Sie denn nicht mehr dort?«

»Nein.«

»Ah, ich verstehe. Wegen der Sache damals. Solche Geschichten sind ekelhaft. Da sind Sie also ausgezogen. Aber warum tragen Sie nur einen solchen alten Hut? Ein junger Mensch wie Sie soll hübsche Kleider haben. Wissen Sie das, Herr Marius? Der Vater Mabeuf nennt Sie sogar Baron … weiter weiß ich nichts. Sind Sie wirklich Baron? Barone sind doch immer alte Männer, die in den Luxembourg-Garten gehen, dorthin, wo die Sonne am besten hintrifft, und die Quotidienne lesen. Ich war einmal mit einem Brief bei einem solchen Baron. Der war seine hundert Jahre alt. Sagen Sie, wo wohnen Sie jetzt?«

Marius antwortete nicht.

»Oh, Sie haben ein Loch im Hemd!« fuhr sie fort. »Ich muß es Ihnen wohl flicken.« Jetzt wurde ihr Gesicht traurig. »Sie scheinen sich gar nicht zu freuen, daß Sie mich wiedersehen.«

Marius schwieg. Auch sie brachte einen Augenblick lang kein Wort über die Lippen.

»Und doch, wenn ich wollte, könnte ich Sie zwingen sich zu freuen.«

»Wieso denn? Was meinen Sie damit?«

»Ach, früher sagten Sie du zu mir.«

»Nun, was meinst du damit?«

Sie biß sich auf die Lippen und schien zu zögern; vielleicht war sie die Beute eines erbitterten Kampfes in ihrem Innern. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein.

»Schade, aber was kann man tun? Sie sehen so traurig aus, ich möchte Sie lieber lustig sehen. Aber Sie müssen mir auch versprechen, daß Sie lachen werden. Ich will bestimmt wissen, daß Sie lachen und sagen: Bravo, das ist gut! Armer Herr Marius, erinnern Sie sich noch, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten mir geben, was ich verlange …«

»Gut, sag schon, was du weißt.«

Sie sah auf das Weiße seiner Augen.

»Ich weiß die Adresse.«

Marius erblaßte. All sein Blut strömte zum Herzen.