»Welche Adresse?«
»Die Adresse, die Sie verlangt haben, die Adresse des Fräuleins.«
Jetzt seufzte sie tief auf.
Marius sprang auf und griff nach ihrer Hand.
»Oh«, rief er, »führ mich hin! Verlang, was du willst. Wo ist sie?«
»Kommen Sie mit mir. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, und weiß die Nummer nicht, es ist recht weit von hier, aber das Haus kenne ich, und ich werde Sie hinführen.«
Sie zog ihre Hand zurück und sagte mit einem kläglichen Ton, der jeden anderen, minder begeisterten Beobachter zu Tränen gerührt hätte:
»Ach, wie Sie sich freuen!«
Marius’ Stirn bewölkte sich. Lebhaft ergriff er Eponines Arm.
»Du mußt mir schwören, daß …«
»Schwören? Was denn?«
»Schwören, Eponine, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst.«
Verwundert blickte sie auf.
»Woher wissen Sie, daß ich Eponine heiße?«
»Versprich mir erst, was ich verlangt habe.«
Sie schien nicht mehr zu hören.
»Das ist lieb, daß Sie mich Eponine genannt haben.«
Marius nahm sie bei den Armen und schüttelte sie.
»So antworte doch um Himmels willen! Höre doch, was ich sage! Schwöre, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst!«
»Meinem Vater? Ach, da seien Sie unbesorgt. Der sitzt in der Dunkelzelle. Übrigens, was kümmere ich mich um meinen Vater?«
»Das sind alles noch keine Versprechungen!«
»Aber lassen Sie mich doch los! Wie Sie mich schütteln! Doch, ich versprech es Ihnen ja! Ich schwöre es sogar, was liegt mir daran? Ich werde die Adresse meinem Vater nicht sagen. Ist es jetzt gut?«
»Und sonst auch niemand?«
»Auch sonst niemand.«
»Gut, dann führe mich!« rief Marius.
»Kommen Sie. Oh, wie er glücklich ist«, murmelte sie.
Nach einigen Schritten aber blieb sie stehen.
»Sie können nicht so nahe hinter mir herlaufen, Herr Marius. Folgen Sie mir, ohne daß man es merkt. Sie dürfen nicht mit einer wie ich gesehen werden.«
Wieder nach zehn Schritten blieb sie neuerlich stehen. Marius holte sie ein.
»Wissen Sie auch, daß Sie mir etwas versprochen haben?«
Marius griff in die Tasche. Er besaß auf der Welt nur diese fünf Franken, die er Vater Thénardier zugedacht hatte. Jetzt nahm er sie und drückte sie Eponine in die Hand.
Sie aber spreizte die Finger und ließ die Münze zu Boden fallen. Dann sagte sie mißmutig:
»Ich will Ihr Geld nicht.«
Zweites Buch
Das Haus in der Rue Plumet
Das geheimnisvolle Haus
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte ein Pariser Gerichtspräsident sich insgeheim eine Geliebte gehalten, insgeheim, weil jene Zeit es so wollte, daß die großen Herren ihre Mätressen zeigten, die Bürger aber die ihren versteckten. Darum hatte er im Faubourg Saint-Germain, in der verlassenen Rue de Blomet, die jetzt Rue Plumet heißt, ein kleines Haus erbauen lassen.
Es bestand aus einem einstöckigen Pavillon, der im Erdgeschoß zwei Zimmer, im ersten Stock zwei Kammern, unten eine Küche, oben ein Boudoir enthielt; vor dem Gebäude lag ein Garten, der gegen die Straße zu vergittert war und ungefähr einen Morgen maß. Mehr bekamen die Passanten der Straße nicht zu sehen. Hinter dem Pavillon aber lag ein schmaler Hof, und auf der anderen Seite des Hofes ein kleiner, niedriger Bau, der insgesamt zwei Räume enthielt, vielleicht ursprünglich dazu bestimmt, im Notfall ein Kind und eine Amme zu beherbergen. Dieser Bau stand durch eine Hintertür, die maskiert war, mit einem langen, schmalen Gang in Verbindung, der zwischen zwei hohen Mauern verlief. Er war mit großer Vorsicht versteckt zwischen den Gärten und Feldern, die angrenzten, und mündete gleicherweise in einer versteckten Tür, die, etwa eine Viertelmeile von dem Hauptgebäude entfernt, in einem anderen Stadtteil, an einer ruhigen Stelle der Rue de Babylone lag.
Im Oktober 1829 hatte ein alter Herr dieses Haus, wie es lag und stand, gemietet, zusammen mit dem Hintergebäude und dem Gang nach der Rue de Babylone. Er ließ die Geheimtüren an beiden Enden des Ganges erneuern, ließ auch an dem Haus, das noch von früher her einige Möbel aufwies, allerlei Ausbesserungen vornehmen. Dann zog er mit einem jungen Mädchen und einer bejahrten Dienerin in aller Stille ein. Nachbarn konnten sich darüber nicht unterhalten, weil es keine gab.
Dieser Mieter, der so wenig Aufsehen zu erregen wünschte, war Jean Valjean, das junge Mädchen Cosette. Die alte Dienerin hieß Toussaint, und Jean Valjean hatte sie vor dem Spital und dem Elend bewahrt. Sie war alt, stammte aus der Provinz und stotterte. Diese drei Vorzüge hatten Jean Valjean veranlaßt, sich ihre Dienste zu sichern. Den Mietvertrag hatte er Fauchelevent, Rentner, unterzeichnet.
Warum hatte Jean Valjean das Kloster Petit-Picpus verlassen? Was war vorgefallen?
Nichts.
Der Leser erinnert sich vielleicht, daß Jean Valjean im Kloster glücklich war, so glücklich, daß er sich schließlich Gewissensbisse machte. Er sah Cosette täglich, fühlte, wie seine väterliche Liebe zu ihr sich immer mehr entfaltete, sagte sich, daß sie ihm ganz gehöre und daß niemand sie ihm mehr entreißen könne. Gewiß würde sie Nonne werden, und da das Kloster jetzt für sie wie für ihn die Welt bedeutete, würde er hier allmählich altern, während sie heranwuchs. Die Hoffnung, sich nie mehr von ihr zu trennen, entzückte ihn.
Und doch, wenn er darüber nachdachte, verfiel er in Unsicherheit. Er prüfte sein Gewissen, fragte sich, ob dieses Glück ihm auch zustehe, ob es sich nicht auf Kosten des Glücks eines andern, jenes Kindes nämlich, erst vollends entfalte; ob nicht er, der Greis, dieses Kind des Glücks beraube. Und war das nicht ein Diebstahl? Dieses Kind, begriff er, hatte ein Recht darauf, die Welt kennenzulernen, bevor es ihr entsagte; man durfte ihm nicht alle Freuden rauben unter dem Vorwand, daß man ihm alle Prüfungen ersparen wolle, durfte die Unwissenheit dieses Mädchens nicht mißbrauchen, um es glauben zu machen, es sei zum Klosterleben berufen; das hieße ein Geschöpf Gottes vergewaltigen und Gott betrüben.
Wer weiß, vielleicht würde Cosette eines Tages eine schlechte Nonne, und dann mußte sie ihn hassen! Dieser letzte Gedanke war fast egoistisch und weniger heroisch als die andern, für Valjean aber war er geradezu unerträglich.
Er beschloß, das Kloster zu verlassen.
Was Cosettes Erziehung betrifft, so war sie fast abgeschlossen.
Sobald Jean Valjean sich also zu einem Entschluß durchgerungen hatte, wartete er nur mehr auf eine Gelegenheit. Sie ergab sich, als der alte Fauchelevent starb.
Jetzt erbat Jean Valjean eine Audienz bei der Priorin und sagte ihr, sein Bruder habe ihm ein kleines Erbe hinterlassen, das ihn immerhin instand setze, in Zukunft ohne Arbeit zu leben; darum scheide er aus dem Dienst des Klosters aus und nehme auch Cosette mit. Es sei aber billig, daß Cosette, wenn sie kein Gelübde ablege, auch nicht kostenlos erzogen werde, und darum bitte er die ehrwürdige Priorin demütig, sie möge im Namen der Klostergemeinschaft ein Geschenk von fünftausend Franken annehmen, das als Entschädigung für die fünf Jahre gelten mochte, die Cosette hier zugebracht. So verließ Jean Valjean das Kloster der Ewigen Anbetung.
Als er fortging, trug er einen kleinen Koffer, den er keinem Dienstmann anvertrauen wollte und dessen Schlüssel er immer bei sich trug. Cosette mußte darüber lachen und sagte schließlich sogar, sie sei auf den Koffer eifersüchtig.
Jean Valjean entdeckte das Haus in der Rue Plumet und ließ sich dort nieder. Jetzt war er ja im rechtmäßigen Besitz des Namens Ultime Fauchelevent.
Gleichzeitig mietete er noch zwei andere Wohnungen in Paris, um nicht, wenn er in einem Stadtviertel bliebe, die Aufmerksamkeit eines Beobachters zu erregen. Er erreichte dadurch, daß er in solchen Fällen wie jenen, da Javert ihn beinahe schon gefaßt hatte, unauffällig verschwinden konnte. Eine dieser Wohnungen lag in der Rue de l’Ouest, die andere in der Rue de l’Homme-Armé.