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Jean Valjean als Nationalgardist

Hauptsächlich aber wohnte er in der Rue Plumet, und dort hatte er sein Leben folgendermaßen eingerichtet.

Cosette bewohnte mit der Dienerin den Pavillon. Sie hatte das große Schlafzimmer, ein Boudoir und den ehemaligen Salon des Gerichtspräsidenten. Auch der Garten stand zu ihrer Verfügung. Er selbst bewohnte den einfachen Bau auf der anderen Seite des Hofes, der eher einer Pförtnerloge glich; seine Matratze lag auf einem Gurtbett, er hatte einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, einen Wasserkrug aus Ton, einige Bücher auf einem Brett und seinen Koffer, von dem er sich nie trennte; geheizt wurde in diesem Raum niemals. Zu essen pflegte er bei Cosette, und er befahl, daß für ihn immer ein Stück Brot bereitlag. Zu Toussaint hatte er, als sie ihren Dienst antrat, gesagt:

»Das Fräulein ist die Herrin des Hauses.«

Cosette hatte im Kloster Haushaltungskunde gelernt und leitete die Wirtschaft, die im übrigen sehr bescheiden geführt wurde. Täglich führte Jean Valjean Cosette spazieren, in den Luxembourg-Garten; er bevorzugte die Allee, die am wenigsten aufgesucht wurde; sonntags führte er sie zur Messe, nach Saint-Jacques du Haut-Pas, weil diese Kirche sehr weit von ihrer Wohnung entfernt war. Die Gegend, in der Saint-Jacques liegt, ist sehr ärmlich, und so hatte er häufig Gelegenheit, Almosen zu verteilen. Wenn er zur Kirche kam, umdrängten ihn die Armen, und so war er zu dem Titel gekommen, den auch Thénardier ihm in seinem Schreiben zubilligte: der wohltätige Herr aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas.

Auch besuchte er mit Cosette Notleidende oder Kranke. Doch durfte kein Fremder das Haus in der Rue Plumet betreten. Toussaint hatte für Lebensmittel zu sorgen, und Jean Valjean selbst holte das Wasser von einem Brunnen auf dem Boulevard. Holz und Wein wurden in einem Halbkeller untergebracht, der an dem Tor zur Rue de Babylone lag und früher jenem Präsidenten als Grotte gedient hatte; darum war er auch noch mit Muscheln ausgelegt. Es gab einmal eine Zeit, wo die Mode für Verliebte Grotten vorschrieb.

An der Tür zur Rue de Babylone gab es auch einen Briefkasten für Briefe und Zeitungen; da aber die drei Bewohner des Pavillons in der Rue Plumet nichts dergleichen empfingen, diente er, der früher Billetdoux und Liebesbotschaften vermittelt hatte, jetzt nur mehr für Steuerzettel und Mitteilungen der Nationalgarde. Denn Herr Fauchelevent, Rentier, gehörte der Nationalgarde an. Der Zensus von 1831 war so streng gewesen, daß ihm nicht einmal die Bewohner eines Nonnenklosters entgehen konnten; überdies war ein Mann, der auf dem unzugänglichen und heiligen Terrain von Petit-Picpus geduldet war, in den Augen des Magistrats so achtenswert, daß man ihn auch des Dienstes auf der Stadtwache würdigte.

Drei- oder viermal jährlich zog Jean Valjean seine Uniform an und tat Dienst. Übrigens folgte er diesen Stellungsbefehlen gern, denn diese Verkleidung – die einzige gesetzmäßige – stellte ihn mit seiner Mitwelt auf gleichen Fuß und gestattete ihm doch, der Einzelgänger zu bleiben, der er war. Jean Valjean hatte bereits das Alter von sechzig Jahren erreicht und war nicht mehr dienstpflichtig, aber er sah nicht älter aus als fünfzig und hatte keine Lust, seinem Kompaniechef zu entlaufen. Er gehörte keinem Stande an, verleugnete seinen Namen, seine Identität, sein Alter – alles. Darum war er gerne Nationalgardist. Dem erstbesten zu gleichen, der brav seine Steuern zahlte, war sein höchster Ehrgeiz. Sein moralisches Ideal war der Engel, sein weltliches der Bürger.

Doch müssen wir einen Umstand erwähnen: wenn Jean Valjean mit Cosette ausging, kleidete er sich wie ein ehemaliger Offizier. Zeigte er sich aber allein auf der Straße, was meistens nur des Abends geschah, so trug er Arbeitertracht und eine Mütze, deren Schild das halbe Gesicht verdeckte. War das Vorsicht oder Bescheidenheit? Beides zugleich. Cosette hatte sich längst an die Absonderlichkeit ihres Schicksals gewöhnt und achtete der eigenartigen Gewohnheiten ihres Vaters nicht. Und was Toussaint betraf, so verehrte sie Jean Valjean und hielt alles für gut, was er tat.

Weder Jean Valjean noch Cosette, noch Toussaint benützten jemals die Tür zur Rue de Babylone. Wer die Bewohner des Hauses nicht durch das Gitter beobachtete, hätte kaum erraten können, daß jemand hier wohne. Das Tor blieb immer verschlossen. Jean Valjean hatte sogar den Garten ungepflegt gelassen, damit er nicht die Aufmerksamkeit der Passanten errege.

Die Rose merkt, daß sie bewaffnet ist

Eines Tages sah Cosette zufällig in den Spiegel und sagte sich:

»Sieh da!«

Ihr schien, sie wäre eigentlich ganz hübsch. Das versetzte sie in merkwürdige Verlegenheit. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nie über ihr Gesicht nachgedacht. Sie sah wohl in den Spiegel, aber sie beobachtete nicht. Auch hatte man ihr so oft gesagt, daß sie häßlich war. Und wenn Jean Valjean auch sanft eingewandt hatte: Aber nein, nicht doch, so hatte sie kaum darauf geachtet. Sie war herangewachsen in dem Gedanken, daß sie häßlich sei, und hatte sich dreingefunden mit der raschen Resignation des Kindes.

Jetzt hatte der Spiegel ihr dasselbe gesagt wie Jean Valjean. Sie schlief nicht in dieser Nacht.

Wenn ich hübsch wäre, dachte sie, wäre das nicht komisch?

Am nächsten Tag sah sie zufällig wieder in den Spiegel und begann zu zweifeln. Ich war wohl nicht ganz bei Trost, dachte sie. Ich bin doch häßlich. Aber sie hatte nur schlecht geschlafen und sah darum blaß und müde aus. Der Gedanke, daß sie schön sei, hatte sie nicht so gefreut, daß sie jetzt, als sie sich eines Besseren belehrt glaubte, traurig geworden wäre. Aber sie sah nicht mehr in den Spiegel und kämmte sich vierzehn Tage lang, ohne hineinzusehen.

Abends nach dem Essen pflegte sie im Salon zu sitzen und sich mit einer Handarbeit zu beschäftigen; Jean Valjean hielt sich in ihrer Nähe und las. Einmal blickte sie von der Arbeit auf und war beunruhigt, als sie gewahrte, wie sorgenvoll ihr Vater sie betrachtete.

Ein andermal glaubte sie auf der Straße jemand hinter ihr sagen zu hören:

»Hübsches Mädchen! Aber schlecht angezogen.«

Ach, der meint mich nicht, dachte sie. Ich bin häßlich, aber gut angezogen. Damals trug sie den Plüschhut und das Merinokleid.

Eines Tages endlich war sie im Garten und hörte, wie die arme alte Toussaint zu Jean Valjean sagte: »Haben Sie denn nicht bemerkt, Herr, wie hübsch das Fräulein wird?« Cosette hörte nicht, was der Vater antwortete, aber Toussaints Worte machten auf sie einen tiefen Eindruck. Sie lief in ihr Zimmer, trat vor den Spiegel, den sie seit Monaten mied, und stieß einen Schrei aus.

Sie war schön, sie war hübsch. Toussaint hatte recht, und ihr Spiegel auch. Ihre Gestalt war nun voll entwickelt, ihre Haut weiß, ihr Haar glänzend; ihre Augen strahlten. Die Erkenntnis ihrer Schönheit kam ihr plötzlich, sie konnte nicht mehr zweifeln. Stolz wie eine Königin kehrte sie in den Garten zurück. Sie glaubte, die Vögel singen zu hören und die Sonne schimmern zu sehen zwischen den Bäumen, obwohl es Winter war.

Jean Valjean seinerseits empfand ein tiefes und kaum erklärliches Unbehagen.

Schon seit einiger Zeit beobachtete er diese täglich strahlendere Schönheit ängstlich. Allen anderen schien sie zu lachen, ihm war sie ein Gegenstand der Trauer.

Wie schön sie ist! dachte er, was soll aus mir werden?

Und die ersten Wirkungen stellten sich bald ein.

Seit Cosette wußte, daß sie schön sei, achtete sie auf ihre Kleidung. Ihr fiel ein, daß jemand im Vorübergehen gesagt hatte: hübsch, aber schlecht angezogen, und dieses Orakel hatte in ihr Herz den Samen eines Gefühls gestreut, welches das Leben der Frau zu bestimmen pflegt, der Koketterie.