Mit dem Glauben an ihre eigene Schönheit entfaltete sich auch ihre weibliche Seele. Das Merinokleid war ihr gräßlich, und sie schämte sich des Plüschhuts. Ihr Vater hatte ihr niemals etwas abgeschlagen. Bald besaß sie die ganze Wissenschaft des Hutes, des Kleides, des Mantels und der Schuhe – diese Wissenschaft, die die Pariserin so reizvoll und so gefährlich macht.
Und zu jener Zeit begegnete ihr Marius nach sechs Monaten wieder im Luxembourg.
Der Kampf beginnt
Cosette trug in ihrer Einsamkeit, wie Marius in der seinen, alle Bereitschaft in sich, in Flammen aufzugehen. Das Schicksal näherte mit geheimnisvoller, schicksalsschwangerer Geduld die beiden mit der Elektrizität der Leidenschaft geladenen Geschöpfe einander, bis sie ihre Seelen vereinen konnten wie zwei Wolken, deren Berührung den Blitz entzündet.
Es gab eine Zeit, da Cosette, ohne es zu wissen, mit ihren Blicken Marius beunruhigte, während auch Marius nicht ahnte, daß sein Blick auf Cosette wirkte.
Schon lange beobachtete das Mädchen ihn, wie junge Mädchen es eben tun: indem sie anderswohin sah. Marius fand Cosette noch häßlich, als sie bereits bemerkt hatte, daß er gut aussah. Aber da er ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, blieb sie gleichgültig.
Als dann eines Tages ihre Augen einander begegneten und erzählten, was unaussprechlich ist, begriff Cosette zunächst nichts. Sie war nur nachdenklich, als sie in das Haus in der Rue de l’Ouest zurückkehrte, in dem Jean Valjean damals gerade für sechs Wochen Quartier genommen hatte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, erinnerte sie sich des jungen Unbekannten, der so lange gleichgültig geblieben war und sie jetzt beobachtete; doch schien ihr, diese Aufmerksamkeit sei ihr gar nicht angenehm. Eher fühlte sie sich bereit, zu zürnen. Ein kriegerischer Instinkt regte sich in ihr. Zu lange hatte er sie übersehen. Sie empfand eine noch ganz kindliche Freude, daß sie jetzt Rache üben konnte.
Sie wußte, daß sie schön war, und ahnte, daß diese Schönheit ihr als Waffe dienen konnte. Die Frauen spielen mit ihrer Schönheit wie Kinder mit dem Messer. Sie verwunden sich selbst.
Man wird sich erinnern, wie schüchtern und verängstigt Marius war. Er blieb auf seiner Bank und wagte sich nicht vor. Das verstimmte Cosette. Eines Tages sagte sie zu Jean Valjean:
»Vater, komm, gehen wir einmal da entlang.«
Da Marius nicht zu ihr kam, ging sie zu ihm. Und seltsam genug, das erste Zeichen wahrer Liebe ist beim Mann die Schüchternheit, beim Mädchen der Mut. Das mag wunderlich scheinen, und doch ist es das Einfachste der Welt. Die beiden Geschlechter wollen sich einander nähern, jedes nimmt die Eigentümlichkeiten des andern an.
An diesem Tag machte Cosettes Blick Marius toll, und zugleich zitterte Cosette unter dem Blick Marius’. Er ging von dannen, neu ermutigt, sie tief beunruhigt. Und von diesem Tage an liebten sie einander.
Kummer
Situationen erzeugen im Menschen die entsprechenden Instinkte. Die alte Mutter Natur benachrichtigte rasch Jean Valjean vom Auftreten Marius’. Er zitterte bis in die dunkelsten Tiefen seines Herzens. Er sah nichts, wußte nichts, spähte aber mißtrauisch in dem Dunkel, in dem er sich befand, um sich, als ob er fühle, daß hier ein alter Bau zusammenstürze und ein neuer aufgerichtet werde. Zugleich aber empfing Marius eine Warnung seines Instinkts und bemühte sich, dem »Vater« so wenig als möglich in die Quere zu kommen. Dennoch geschah es, daß Jean Valjean ihn zuweilen bemerkte. Marius’ Gehaben war alles andere als natürlich. Er zeigte eine bedenkliche Vorsicht und eine linkische Keckheit. Auch kam er jetzt nicht mehr so nahe heran wie früher. Weit ab nahm er Platz und blieb wie verzückt sitzen. Auch brachte er ein Buch mit und tat, als ob er lese. Warum verstellte er sich?
Früher hatte er einen alten Anzug getragen, jetzt erschien er täglich in festlichem Gewande; es war nicht einmal sicher, daß er sich nicht die Haare kräuseln ließ: er machte komische Augen, ja, er trug Handschuhe!
Jean Valjean verabscheute diesen jungen Mann aus ganzem Herzen. Cosette ließ sich nichts anmerken. Sie wußte selbst kaum, was sie empfand, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre Gefühle verheimlichen mußte.
Jedenfalls bestand zwischen der plötzlich erwachten Neigung Cosettes für gute Kleider und der feiertäglichen Gewandung des jungen Mannes ein Parallelismus, der Jean Valjean mißfiel. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, beruhte er auf einem Zufall, aber dieser Zufall schien bedrohlich.
Niemals sprach er zu Cosette von diesem Unbekannten. Eines Tages aber konnte er sich nicht länger halten und sagte in einem Anfall unklarer Verzweiflung, die zuletzt das eigene Unheil heraufbeschwört:
»Dieser junge Mann sieht aber sehr pedantisch aus!«
Vor einem Jahr noch hätte Cosette als gleichgültiges junges Mädchen geantwortet: »Aber nein, er ist reizend.« Zehn Jahre später hätte sie vielleicht gesagt: »Pedantisch und unerträglich, du hast recht.« In ihrem augenblicklichen Zustand aber beschränkte sie sich darauf, mit erheuchelter Ruhe zu sagen: »Ach, der da!«
Als ob sie ihn zum erstenmal bemerkt hätte.
Wie dumm ich war, dachte Jean Valjean, sie hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Ich mache sie noch auf den Menschen aufmerksam.
O rührende Einfalt der Alten, o ahnungsvoller Verstand der Kinder!
Jean Valjean begann einen geheimen Krieg gegen Marius zu führen, den dieser in der erhabenen Torheit seiner Leidenschaft und seines Alters nicht bemerkte. Der Greis legte ihm eine Menge von Fallen. Er kam zu verschiedenen Zeiten in den Park, wechselte die Bank, verlor sein Taschentuch, kam schließlich sogar allein; wie mit verbundenen Augen stolperte Marius in jede Falle. Sooft Jean Valjean ein tückisches Fragezeichen in seinen Weg stellte, antwortete er harmlos »ja«. Cosette ließ sich inzwischen nicht aus ihrer scheinbaren Sorglosigkeit und unbeirrbaren Ruhe herauslocken, so daß Jean Valjean schließlich zu dem Schlusse kam: dieser alberne Bursche ist bis über die Ohren in Cosette verliebt, aber sie hat ihn noch gar nicht bemerkt.
Ein einziges Mal beging sie einen Fehler und alarmierte ihren Vater. Nach dreistündigem Verweilen auf der Bank stand er auf, um nach Hause zu gehen. Da sagte sie:
»Schon?«
Das übrige ist dem Leser bekannt. Marius fuhr fort, sich möglichst ungeschickt zu benehmen. Eines Tages folgte er Cosette in die Rue de l’Ouest. Ein andermal sprach er gar mit dem Pförtner. Dieser seinerseits verständigte Jean Valjean darüber.
»Herr«, sagte er, »wer ist der junge, neugierige Mann, der Sie ausforscht?«
Am nächsten Tag warf Jean Valjean Marius einen Blick zu, den dieser endlich begriff. Und acht Tage später war Jean Valjean umgezogen. Er schwor, den Luxembourg-Garten nie mehr zu betreten und die Rue de l’Ouest zu meiden. Er kehrte in die Rue Plumet zurück.
Drittes Buch
dessen Anfang nicht dem Ende gleicht
Ein Idyll der Einsamkeit und eine Kaserne benachbart
Seit vier oder fünf Monaten hatte Cosette Marius nicht gesehen. Ohne es selbst zu bemerken, hatte sie sich beruhigt. Die Natur, der Frühling, die Jugend, Liebe zu ihrem Vater, endlich der fröhliche Gesang der Vögel und die heitere Frische der Blumen ließen allmählich, Tropfen für Tropfen, einen Balsam in die Seele dieser Jungfrau träufeln, der dem Vergessen nicht unähnlich war. Erlosch ihr Feuer? Glomm es unter der Asche?
Tatsache ist, daß sie wenigstens den heftigen Schmerz nicht mehr fühlte.
Eines Tages erinnerte sie sich plötzlich Marius’.
Ach, dachte sie, ich denke ja kaum mehr an ihn.
In derselben Woche bemerkte sie, daß ein sehr smarter Offizier der Lanzenreiter mit Wespentaille, entzückender Uniform, Schleppsäbel, aufgedrehtem Schnurrbart und lackierter Tschapka an dem Gitter ihres Gartens vorbeispazierte. Überdies hatte er blonde Haare, blaue Augen, ein rundes, hübsches und unverschämtes Gesicht; in nichts glich er Marius.